Ausrüstung

Sechs gute Gründe gegen zu enge Nasenriemen

Ein Artikel von Pamela Sladky | 06.11.2019 - 13:44
AdobeStock_33555141_klein.jpg

Eng, enger am engsten: Viele Reiter halten sich nicht an die traditionelle Zwei-Finger-Regel wenn es um die Verschnallung des Reithalfters geht.
©Kseniya Abramova - stock.adobe.com

1. Lerntheoretischer Quatsch

Pferde werden hauptsächlich durch die Ausübung von Druck und dessen Wegnahme trainiert. Negative Verstärkung heißt dieses Vorgehen in der Lerntheorie. In der Praxis bedeutet das, dass Druck aufgebaut wird, um ein gewünschtes Verhalten zu erzielen. Weil Pferde ablehnend auf Druck reagieren, liegt es in ihrer Natur, verschiedene Dinge auszuprobieren, um ihm zu entkommen. Problematisch wird dieses Konzept, wenn permanent Druck ausgeübt wird, ohne dass es für das Pferd eine Chance gibt, ihn durch „richtiges“ Verhalten zu vermeiden. Genau dieses Szenario bietet sich bei einem angeknallten Nasenriemen: Das Pferd erfährt einen unangenehmen Reiz, den es nicht loswird – egal, wie brav es sich benimmt oder wie gut es seine Arbeit verrichtet. Das wirkt sich nicht nur negativ auf die Motivation aus, es ist auch ein Auslöser für Stress.

2. Auslöser für Stress

Genau zu diesem Schluss kam ein Forscherteam um Paul Damien McGreevy von der Universität in Sidney anlässlich seiner 2012 veröffentlichten Arbeit. Bei maximal zugeschnürtem Nasenriemen (kein Platz zwischen Riemen und Nasenrücken des Pferdes) reagierten sämtliche Pferde mit erheblichem Unbehagen. So war neben einer erhöhten Herzfrequenz und einer verringerten Herzschlagvariabilität auch eine gesteigerte Augentemperatur messbar – allesamt Indikatoren für gesteigerten physiologischen Stress.

3. Erhöhte Wahrscheinlichkeit für Verletzungen

Damit nicht genug. Eine Studie an 3143 Turnierpferden in Dänemark zeigte eine signifikante Verbindung zwischen eng verschnallten Nasenriemen und Wunden im Maulwinkel auf. Pferde mit strammgezogenen Riemen hatten eine um 68 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit für Verletzungen in diesem Bereich im Vergleich zu Pferden, deren Reithalfter nach der traditionellen Zwei-Finger-Regel verschnallt war.

4. Verminderte Gangqualität

Auch auf die Beweglichkeit wirken sich zugezurrte Nasenriemen negativ aus. Und zwar nicht nur im Maulbereich, wo eine eingeschränkte Mobilität des Kiefers und der Zunge von manchen Reitern durchaus gewollt ist. Auch die Gangqualität leidet. So hatte die Reduzierung des Nasenriemenspitzendrucks in einer 2015 durchgeführten Studie zur Folge, dass Pferde ihre Vorderfußwurzel- und Sprunggelenke besser beugten und besser mit den Vorderbeinen ausgreifen konnten.

5. Ungewisse Langzeitfolgen

Ob festgezurrtes Zaumleder auch negative Langzeitfolgen für die Pferdegesundheit hat, ist bislang noch nicht ausreichend erforscht. Fest steht, dass von zu engen Nasenriemen extreme Kräfte auf Haut, Nerven und Knochenstrukturen des Pferdes wirken. Das ISES Positionspapier spricht hier von Maximalwerten bis 75 Newton. Diese könnten Unbehagen, Schmerzen und Verletzungen nach sich ziehen, wenngleich die Auswirkungen auf tieferliegende Strukturen noch näherer Untersuchungen bedürfen.

6. Auch Polsterung birgt Risiken

Das im modernen Reitsport so beliebte Abpolstern von Nasenriemen durch Neopren-, Gel- oder Lammfellunterlagen verschafft dem Pferd laut ISES nur bedingt Erleichterung. Gleichzeitig erhöht die Polsterung die Gefahr, dass der Wangenbereich des Pferdes gegen die vorderen Backenzähne gepresst wird, was wiederum Verletzungen an der Maulschleimhaut nach sich ziehen kann.
 

Zu eng das neue Normal

Entgegen allen medizinischen und lerntheoretischen Erkenntnissen und Empfehlungen sind in der Praxis zugeschnürte Pferdemäuler eher die Regel denn die Ausnahme. Das belegen zahlreiche Studien. So waren in einer 2016 veröffentlichten Arbeit lediglich 7 Prozent von 737 überprüften Turnierpferden – vornehmlich aus den Disziplinen Dressur und  Vielseitigkeit – mit einem korrekt nach der Zwei-Finger-Regel verschnallten Nasen- bzw. Sperrriemen ausgestattet. Bei traurigen 44 Prozent dieser Pferde waren besagte Riemen sogar so festgezurrt, dass das verwendete Messgerät zur Überprüfung des Sitzes nicht einmal im Ansatz zwischen Nasenrücken und Riemen geschoben werden konnte.

Und das, obwohl der Weltreiterverband in seinem viel zitierten Verhaltenskodex zum Wohle des Pferdes festhält, dass „Ausrüstungsgegenstände so konstruiert und angebracht sein müssen, dass das Risiko von Schmerzen oder Verletzungen vermieden wird“ (FEI, 2019). Weiters heißt es dort, dass Pferde „keinen Methoden ausgesetzt werden dürfen, die missbräuchlich sind oder Angst verursachen“.

In Bezug auf den Nasenriemen sieht man allerdings davon ab, zu konkret zu werden. Die Zwei-Finger-Regel etwa sucht man im Reglement der FEI vergebens. Stattdessen heißt es in den FEI-Dressurregeln (Artikel 428): „Auf Turnieren darf ein Reithalfter niemals so fest angezogen sein, dass es dem Pferd Schaden zufügt, und muss gemäß dem Handbuch für Stewards überprüft werden.“ Fatal: Bei der Angabe der Messstelle führt die FEI an, dass es möglich sein müsse, zumindest einen Finger zwischen der Wange des Pferdes und dem Nasenriemen zu platzieren. Doch genau hier liegt der Hund begraben: Denn ausgerechnet in diesem Bereich des Pferdekopfes lassen sich selbst bei maximal zugezurrtem Nasen- und Sperrriemen mühelos mehrere Finger einer Hand einschieben. Die einzige wirklich zuverlässige Überprüfung ist und bleibt die Messung am Nasenrücken.

14689152261810.jpg

Die ISES Messschablone im Einsatz: Bei der hier abgebildeten Verschnallung ist der Minimalabstand von einem Fingerbreit gegeben. Für die allgemein geforderten zwei Fingerbreit Abstand müsste die Messschablone bis zur zweiten Markierung weitergeschoben werden können. © Kristina Wilkins

Messschablone weiterhin in Warteschleife

Dabei wäre es eigentlich ganz einfach, ein für alle Reiterinnen und Reiter – und vor allem für die Pferde – gleichermaßen faires System zu implementieren, indem man die Verwendung einer einheitlichen Messschablone bei der ohnedies vorgeschriebenen Gebisskontrolle zur Pflicht macht. Genau das ist es auch, was die ISES-Experten in ihrem Positionspapier vorschlagen. Eine solche Schablone gibt es bereits seit 2016. Beim Weltreiterverband konnte man sich bislang aber nicht damit anfreunden. Ihr Einsatz sei für die Pferde in der ohnehin eher aufregenden Umgebung eines Turniers möglicherweise mit zu viel Stress verbunden, hieß es von Seiten eines FEI-Sprechers auf Nachfrage des britischen Mediums The Guardian. Offenbar scheint man beim Weltreiterverband dem Stress, der von zu eng verschnallten Reithalftern ausgeht, als weniger problematisch anzusehen.

Das ISES Positionspapier im englischen Originalwortlaut gibt's hier.