Ausrüstung

Schnurgurt: Warum Profis auf ihn schwören

Ein Artikel von Claudia Götz | 06.09.2018 - 12:19
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So simpel, so gut: Der Schnurgurt hat gegenüber seinen Kollegen aus Stoff, Leder und Neopren viele Vorteile.
©www.Slawik.com

Der mit Sicherheit namhafteste bekennende Fan der Schnurengurte ist Ingrid Klimke. Und ihre Vorliebe hat gute Gründe: „Es gibt keinerlei Probleme mit Scheuerstellen, da die Gurte gut anliegen und sich Sand oder Wasser nicht darunter halten. Zudem laufe ich damit kein Risiko, zu stramm nachzugurten“, sagt die international in Vielseitigkeit und Dressur erfolgreiche Reitmeisterin aus Deutschland. Doch damit sind noch lange nicht alle Vorzüge genannt, mit denen der heute etwas ins Abseits geratene Ausrüstungsgegenstand punktet. Aber der Reihe nach.

Die eigentliche Aufgabe des Sattelgurtes besteht darin, den Sattel auf dem Pferderücken zu fixieren. Dabei wird nur allzu leicht vergessen, dass er selbst einige Voraussetzungen erfüllen muss. Ganz oben auf der Liste steht, dass der Sattelgurt die physiologischen und biomechanischen Abläufe des Pferdes nicht stören darf, denn das Pferd muss sich schließlich auch gesattelt wohlfühlen. Nur so ist Leistung möglich.

Wie sehr ein Gurt das Vermögen beeinflusst, wurde in einer australischen Studie deutlich, bei der Rennpferde mit ansteigendem Druck von 5 bis 20 kg gegurtet wurden. Bereits ab einem Druck von 5 kg trat eine erhebliche Leistungsminderung ein. Und die verstärkte sich, je mehr der Druck erhöht wurde. Obendrein ermüdeten die Pferde auch schneller. Womit das zusammenhängt? Laut Forscherteam vor allem mit der Atmung.

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Reitmeisterin Ingrid Klimke ist bekennender Schnurgurt-Fan. © Jacques Toffi - www.arnd.nl

Sattelgurt und Atmung

Pferde atmen mit Hilfe der Brust- und Bauchwandmuskulatur. Ist der Gurt zu eng, beeinträchtigt das primär die Bauchatmung. Sie ist zwar die effektivste Form, um Luft zu holen, tiefes Einatmen beginnt jedoch bereits im Brustkorb. Und auch hier wirkt sich ein zu straff sitzender Gurt negativ aus. „Bei jedem Atemnholen werden mehr als 180 Gelenke beansprucht“, schreibt der belgische Osteopath Pascal Evrard in seinem Lehrbuch der strukturellen Osteopathie beim Pferd. Alle diese 180 Gelenke befinden sich im Brustkorb. Bereits „eine einzige Blockade kann die gesamte Mechanik beeinträchtigen“, so Evrard weiter. Die ist schnell gegeben, wenn das Brustbein in seiner Beweglichkeit gestört ist – und schon kann der Atem nicht mehr ungehindert fließen. Hinzu kommt, dass die erste Rippe und der siebte Brustwirbel gekoppelt sind. Probleme mit dem Gurt können eine Blockierung des Übergangs von der Hals- zur Brustwirbelsäule bewirken, was auf Dauer Folgeschäden nach sich ziehen kann.

Von Blockaden einmal abgesehen, kann ein unpassender Sattelgurt aber schon viel früher für Probleme sorgen. Bereits ein Unwohlsein durch zu starken Druck kann Pferde dazu veranlassen, sich festzuhalten. Auf diese Weise wird die Rotation des Rippenkastens, die bei jeder Biegung, dem korrekten Durchreiten jeder Ecke oder Tour gefordert ist, mitunter stark gestört oder gar unmöglich gemacht. Denn sobald das Pferd mit der Brust- und Bauchmuskulatur den Widerrist anhebt, kommt automatisch vermehrt Druck auf den Gurt. Schmerzt dieser, weil er an den Kanten oder auf das Brustbein drückt, wird das Pferd den Brustkorb wieder sinken lassen, im schlimmsten Fall sogar den Rücken wegdrücken.

Unter Berücksichtigung der anatomischen und biomechanischen Fakten haben Schnurgurte einen ganz entscheidenden Vorteil gegenüber der heutigen Konkurrenz aus Leder, Kunststoff und anderen Materialien: Der Schnurgurt folgt dem Pferd in jeder Bewegung und verteilt dabei den Druck immer gleichmäßig. Möglich macht das seine besondere Konstruktion aus einzelnen Schnüren in Kombination mit stabilisierenden Abschnitten sowie der Grundelastizität des Naturmaterials. Dazu zählen Baumwolle oder Leinen sowie Mohair und Schafwolle. Die Elastizität ist unterschiedlich und abhängig vom Material und der Machart des Gurtes.

Seine Fähigkeit, Druck besonders gleichmäßig zu verteilen, ist auch aus energetischer Sicht ein Vorteil, denn dort, wo der Sattelgurt aufliegt, verlaufen beim Pferd viele Meridiane, wie Dr. Barbara Koller, Fachtierärztin für Physiotherapie und Rehabilitationsmedizin, erklärt. Die aus der chinesischen Medizin bekannten Energiebahnen können durch Druck gestaut und Akupunkturpunkte direkt gereizt werden. „Bei beidem entstehen Probleme in den Bereichen, für die der betreffende Meridian oder Punkt steht. Der Nierenmeridian, der auf Höhe des Ellbogens verläuft, steuert beispielsweise maßgeblich die entspannte Anbindung der Hinterhand. Ist der Nierenmeridian nicht ausgeglichen, treten häufig Ängstlichkeit oder Schreckhaftigkeit auf.“ Und nicht zuletzt kann „ein zu fest angezogener Gurt über Meridian-Zustimmungspunkte die Herz- und Lungenfunktion beeinflussen“, so Koller.

Wenn’s drückt

Für die Physiotherapeutin muss ein guter Gurt noch weitere Kriterien erfüllen: „Er sollte nicht zu knapp hinter dem Ellbogen sitzen und keinen punktuellen Druck ausüben.“ Tut er es doch, hat das gravierende Auswirkungen auf die Vorhand – wie Ergebnisse einer weiteren Studie zeigen. Wurde im Versuch der Druck hinter dem Ellenbogen weggenommen – etwa durch die Anpassung des Gurtmaterials oder eine Aussparung – konnten die Pferde ihre Vorderbeine um bis zu 10 % höher anheben. Davon profitierten übrigens auch die Hinterbeine, die ihrerseits bis zu 20 % weiter vortraten. Und auch das Beugen von Vorderfußwurzel- und Sprunggelenken konnte durch die optimierte Passform verbessert werden. Den Grund für diese eingeschränkte Beweglichkeit bei punktuellem Druck hinter dem Ellbogen erklärt Koller so: „Von der oberflächlichen Schicht aus pflanzt sich der Druck weiter ins Bindegewebe und damit über die Muskulatur in so gut wie alle Strukturen des Körpers fort und beeinflusst damit die Mechanik des Pferdes.“

Der Schnurgurt kann auch hier punkten. Durch seine leichte Bauweise trägt er so gut wie gar nicht auf, jedenfalls bei weitem nicht so stark wie Leder- oder Neoprengurte. Dieser Aspekt ist besonders interessant bei Pferden mit eng anliegenden Ellbogen und wenig Ellbogenfreiheit durch kompakte Rümpfe, aber auch bei jungen oder noch nicht weit ausgebildeten Pferden, die noch nicht gelernt haben, sich im Widerrist anzuheben und so die Ellbogen frei werden zu lassen. Zwar gibt es anatomisch geformte Gurte, die derartige Probleme verhindern sollen, sie bergen jedoch die Gefahr, an der Kante oder Krümmung zu drücken, was wiederum Probleme in anderen Bereichen nach sich ziehen kann.

So gurten Sie richtig

Die Schnallen sollten sich im fertig gegurteten Zustand auf einer Höhe, also auf beiden Seiten im gleichen Loch befinden. Wählen Sie einen Langgurt, der fertig gegurtet nicht höher reicht als bis etwa zur Mitte der Strippen (was zumeist dem vierten Loch von unten entspricht). So stört die Schnalle Pferd und Reiter am wenigsten. Bei Kurzgurten liegen die Schnallen idealerweise eine Handbreit vom Sattel entfernt auf. Viele Kurzgurte sind leider zu kurz. Die  Schnallen müssen so hoch sitzen, dass das Pferd nicht in der Bewegungsfreiheit der Ellbogen eingeschränkt  wird. Es kann deshalb bei einem ungünstigen Längenverhältnis von Reiterbein und Pferderumpf besser sein,  einen Sattel mit Langgurt zu verwenden. Finger weg von Gurten mit einseitigem Gummizug! Bei solchen Modellen  wird immer einseitig Druck aufs Brustbein ausgeübt. Falls Sie einen solchen Gurt besitzen, wechseln Sie  vor jedem Mal reiten die Seite mit dem Elastikeinsatz von links nach rechts. Für alle Modelle gilt: Spannen Sie den Gurt vor, indem Sie ihn dicht unter dem Bauch mit leichtem Druck (sodass der Sattel nicht rutscht) übers Brustbein führen. So vermeiden Sie Hautfalten. Gurten Sie stufenweise  und wechselseitig auf beiden Seiten nach. 

Materialkunde

Es gibt Dinge, die waren in der guten, alten Zeit tatsächlich besser. Auf die Schnurgurte trifft das in vielen Fällen zu. Leider sind die meisten der heute angebotenen Modelle aus Kunstfaser gefertigt. Zwar verteilen deren Schnüre den Druck immer noch besser als kompakte Gurte, allerdings bietet das synthetische Material nicht dieselbe Elastizität wie Naturfasern und ist obendrein auch weniger atmungsaktiv. Dennoch übertreffen sie auch in diesen beiden Punkten Leder-, Neopren- und Stoffgurte. Nicht zuletzt sind Schnurgurte – speziell solche aus Naturmaterialien – für Pferde mit empfindlichem Fell oder sensibler Haut von Vorteil, da sie ein Scheuern absolut vermeiden. Die häufig geäußerte Annahme, die einzelnen Schnüre würden Hautfalten einklemmen, gehört in das Reich der Mythen, wie Ingrid Klimke bestätigt: „Dieses Problem hat man mit Schnurengurten überhaupt nicht.“

Ausschließlich gute Erfahrungen hat auch Klassik-Ausbilderin Steffi Ruddigkeit aus dem niederbayerischen Wolnzach gemacht: „Sand und Schweiß wirken unter Leder wie Schmirgelpapier. Bei Schnurengurten hat man diesen negativen Effekt nicht. Und zum Säubern lässt man sie einfach trocknen und kann sie dann gegen einen Zaun ausklopfen, um Sand und Staub zu lösen.“ Ruddigkeit schwört aber noch aus ganz anderen Gründen auf Gurte aus Kordeln. „Schnurengurte aus Leinen, wie sie in der Militärreiterei verwendet wurden, folgen wie auch Wollgurte diagonal elastisch dem Pferdebauch. Dadurch können die Pferde in der Versammlung ihren Bauch anspannen, ohne dass ein Gurt dabei drückt.“ Vor allem in Lektionen, die Versammlung und eine maximale Aktivität der Bauchmuskeln als Grundvoraussetzung haben – egal ob Piaffe oder das Kompliment unter dem Sattel –, schätzt sie die Schnurgurte aus Schafwolle, „da deren diagonale Elastizität die Bewegungen und die vermehrte Aufwölbung des Rippenkastens sowie dessen Rotation optimal begleitet und zulässt."

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Schnurgurte sollten zumindest 13 cm breit sein. © Steffi Ruddigkeit

Ein Muss für Ruddigkeit ist allerdings die ausreichende Breite des Gurtes. Bei einem Großpferd sollte sie 13 cm nicht unterschreiten, so die Ausbilderin. „Viele Gurte, vor allem die aus Nylon, sind viel zu schmal.“ Ruddigkeit fertigt ihre Gurte deshalb extra von Hand an. Ihre Modelle sind aus Schafwolle und extrabreit, die Schnallen in Lederkappen eingefasst: „So trägt der Gurt unter dem Sattelblatt nicht auf – drückt also weder Pferd noch Reiter.“ Auf die Frage, warum Schnurengurte in hoher Qualität heute trotz der vielen Vorteile nicht weiter verbreitet sind, nennt sie unterschiedliche Gründe: Es sei schwer, jemanden zu finden, der diese Handarbeit macht, und es gebe auch nicht viele Reiter, die den Wert erkennen und bereit sind, den entsprechenden Preis dafür zu bezahlen. Ihr Faible für Schnurgurte gibt die Ausbilderin auch an ihre Reitschüler weiter. Einige von ihnen haben sich fertige Modelle umnähen lassen – etwa zwei schmale nebeneinander –, nutzen Westerngurte mit Adapter oder haben sich diese mit Schnallen für Englisch-Sattelstrippen umarbeiten lassen. Im Westernbereich sind Schnurengurte nämlich noch deutlich weiter verbreitet. Ihr Vorteil: Sie sind typischerweise sehr breit im Bereich des Brustbeins – oft mehr als 20 cm – und zumeist aus Mohair. Doch auch ganz normale Schnurengurte hält die passionierte Dressurreiterin, wenn sie breit genug sind, für eine gute Lösung: „Sie punkten immer mit Hautfreundlichkeit. Das liegt vor allem daran, dass sie dort liegen bleiben, wo sie sollen und nicht etwa in die Achsel rutschen.“

Gurten ohne Zwang

Schnurgurte haben besonders bei jungen Pferden noch weitere Vorteile: Durch die Elastizität und die gute Druckverteilung kommt es deutlich seltener zu Gurtenzwang. Das liegt auch daran, dass man mit einem Schnurgurt – vor allem in der Langversion – besser von oben nachgurten kann, ohne „in Gefahr zu geraten, ihn zu fest anzuziehen“, so Klimke. Letzteres passiert besonders bei Modellen mit Gummizug sehr leicht.

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In versammelten Lektionen, in denen das Aufwölben des Rippenkastens gefordert ist, punktet der Schnurgurt durch seine Elastizität und Flexibilität.
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Zeigt ein Pferd Probleme beim Satteln oder beim Gurten, kann ein geschnürtes Modell deutliche Erleichterung bringen. Allerdings ist das Problem nicht immer allein durch einen Wechsel der Ausrüstung behoben. Manche Pferde müssen erst davon überzeugt werden, dass nichts mehr wehtut. Bei Pferden, die weiterhin stark die Luft anhalten und den gesamten Rumpf festhalten, sobald man ihnen mit dem Gurt zu Leibe rückt, wendet Steffi Ruddigkeit einen Trick an. „Manchmal hilft es, dem Pferd bei gesenktem Kopf ein Leckerli zu füttern. Dabei entspannen die meisten automatisch, weil sie durch die Kopfhaltung und das Kauen mental besser zum Loslassen kommen. Dann klappt auch das ruhige Atmen wieder.“

Nicht zuletzt aus diesem Grund gehört für die Ausbilderin bei allen Pferden vor dem Reiten Bodenarbeit immer dazu: „Ich möchte dem Pferd ermöglichen, sich mit dem Sattel ohne Reiter zu lösen und tief zu atmen.“ Für sie ist schon beim Gurten entscheidend, nicht „dort Enge zu schaffen, wo man eigentlich Weite möchte“. Ein simpler Schnurgurt bringt alle nötigen Voraussetzungen mit, damit diese Übung gelingt und das Pferd zufrieden mit seinem gut sitzenden Sattel laufen kann.

Sie sollten einen Umstieg auf einen Schnurgurt überlegen wenn

  • ... das Pferd Probleme beim An- oder Nachgurten oder beim Satteln zeigt und der Sattel als Verursacher ausgeschlossen werden kann.
  • ... sich das Pferd in der Gurtenlage aufscheuert, etwa am Ellbogen.
  • ... das Pferd eine sehr lange Lösungsphase und Probleme hat, den Rücken aufzuwölben.
  • ... der Gurt und/oder der Sattel rutschen, obwohl der Sattel passt.
  • ... das Pferd wiederkehrende oder chronische Atemwegsprobleme hat und regelmäßig geritten wird.