PSEUDO-NARKOLEPSIE

Wenn Pferde nicht schlafen können

Ein Artikel von Eva Schweiger | 12.09.2023 - 17:45
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Tagesschläfrigkeit und Blessuren an Fessel-, Karpal- und Sprunggelenken sind typisch für Pseudo-Narkoleptiker. © Petra | pixabay.com

Vor etwa sechs Jahren publizierten zwei angehende deutsche Veterinärmedizinerinnen ihre Dissertationen zu einem Thema, das bis dahin wissenschaftlich wenig untersucht war: den Auswirkungen von Schlafmangel beim Pferd. Revolutionär war der Einsatz eines mobilen Schlaflabors, das die Gehirn-, Muskel- und Augenaktivität der Pferde über einen Zeitraum von 24 Stunden aufzeichnet. Die untersuchten Pferde waren allesamt von ihren Besitzer: innen wegen vermeintlicher Narkolepsie – also einer Schlafkrankheit – für die Studie zur Verfügung gestellt. Sie hatten beobachtet, dass ihre Vierbeiner beim Ruhen schwankten, einknickten oder völlig zu Boden stürzten, bemerkten wiederkehrende Verletzungen oder exzessive Schläfrigkeit tagsüber. Was allerdings im Laufe der Studie schnell deutlich wurde: Die Pferde litten gar nicht unter Narkolepsie. Narkolepsie ist eine beim Pferd sehr seltene, unheilbare Erkrankung, die schon im Fohlenalter auftritt. Die bei den Probanden beobachteten Kollapse rührten vielmehr von einem Schlafmangel her – ein Zusammenhang, den Dr. Lena Charlotte Kiefner und Dr. Christine Fuchs zum ersten Mal wissenschaftlich belegen konnten und als Pseudo- Narkolepsie bezeichneten.
 

Hohe Dunkelziffer

Wie viele Pferde heute von Pseudo-Narkolepsie betroffen sind, darüber lässt sich nur mutmaßen. Sicher ist: Die Dunkelziffer ist hoch, die Aufklärung der Pferdehalter:innen über das Syndrom nach wie vor gering. Oft vergehen Jahre, bis Tagesschläfrigkeit oder unauffällige Verletzungen, die beim Einknicken und Stürzen entstehen, von Pferdebesitzer: innen überhaupt bewusst wahrgenommen, geschweige denn einem möglichen Schlafmangel zugeordnet werden. Die Kollapse selbst beobachten die wenigsten, erst wenn bereits eine Vermutung besteht und z. B. eine Überwachungskamera im Stall angebracht wird, zeigt sich schließlich das Ausmaß des Problems. Es scheint daher umso wichtiger, Aufmerksamkeit auf das Schlafbedürfnis des Pferdes zu lenken. In den bisher durchgeführten Studien zum equinen Schlafverhalten zeigt sich nämlich deutlich: Guter, gesunder Schlaf steht und fällt mit den Haltungsbedingungen. Die konkreten Auslöser eines dauerhaften Schlafmangels lassen sich allerdings nicht verallgemeinern. Für jedes betroffene Pferd gilt es daher, diese ganz individuell zu finden und zu beseitigen. Klar ist:

Wenn ein Pferd bereits unter Verletzungen, Erschöpfung oder gar Kollapsen leidet, muss seine ungestörte Nachtruhe im Sinne des Tierwohls unbedingt sofort zur obersten Priorität des Halters werden.


Schlaf fehlt – aber welcher?

Der Schlaf des Pferdes kann grob in zwei Schlafphasen unterteilt werden, und zwar den REM- und den Non-REM-, auch NREM-Schlaf. Der namensgebende Unterschied zwischen beiden sind die kurzen Phasen schneller Augenbewegungen, der „rapid eye movements“ (REM), die nur während des REM-Schlafs auftreten. Sie zeugen von einer hohen Aktivität des vegetativen (nicht bewusst steuerbaren) Nervensystems. Das Gehirn ist während dieser Phasen nämlich damit beschäftigt, vergangene Eindrücke noch einmal durchzuspielen und neue Nervenverbindungen aufzubauen. Auch Träume häufen sich dann, sodass der REM-Schlaf auch als Traumschlaf bezeichnet wird.

Damit die Aktivität des Gehirns allerdings nicht dazu führt, dass das schlafende Tier sich zu stark bewegt und gar selbst verletzen kann, werden die körperlichen Reflexe dabei inaktiviert, die Skelettmuskulatur bleibt komplett entspannt – mit Ausnahme der kurzen Episoden von Muskelbewegungen während der rapid eye movements. Daraus folgt, dass REMSchlaf nur in einer liegenden, völlig entspannten Position möglich ist. Und das gilt auch fürs Pferd. Selbst wenn Pferde dafür bekannt sind, im Stehen schlafen zu können: Sie müssen sich für einen vollständigen Schlafzyklus inklusive aller Schlafphasen regelmäßig hinlegen.

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In der Nacht aufzuwachen, ist für Pferde ganz normal. Aufs Liegen zu verzichten aber nicht! © www.Slawik.com


Zwickmühle Sicherheit vs. Ruhe

Pferde schlafen im Mittel nur zwischen zweieinhalb und fünf Stunden täglich und viel weniger stabil als Mensch, Hund oder Katze. Der durchschnittliche Mensch verbringt z. B. etwa zwanzig Minuten am Stück im Traumschlaf, das Pferd kaum vier. Wie lange ein Pferd stehend schläft und wie lange bzw. in welcher Position (in Bauch- oder Seitenlage) es liegt, ist dabei individuell sehr unterschiedlich und verändert sich auch im Laufe seines Lebens und je nach Umgebung und Gesundheit. All das ist natürlich eine tief verankerte evolutionäre Anpassung an das Dasein als Fluchttier. Wenn sich Pferde also nicht sicher genug fühlen, um sich hinzulegen, verzichten sie instinktiv darauf – und damit notgedrungen auch auf den so wichtigen REM-Schlaf.

Geschieht das akut und nur über einen kurzen Zeitraum, also eine oder wenige Nächte lang, sind die Folgen harmlos. Wird der Schlafmangel allerdings chronisch, entwickeln sich ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen: Das Immunsystem schwächelt, physiologische Stressreaktionen wie Gewichtsverlust oder hormonelle Ungleichgewichte häufen sich, die motorischen Fähigkeiten, Gedächtnisleistung sowie Lernfähigkeit lassen nach. Die Stressresistenz des Pferdes verringert sich, und ein Teufelskreis kommt in Gang: Je übermüdeter es ist, desto leichter wird es durch seine Umgebung in Stress versetzt, und je gestresster es ist, desto weniger schläft es.

Wird das Defizit an REM-Schlaf schließlich zu groß, fordert das Gehirn den Traumschlaf rücksichtslos ein: Die Pferde gleiten im Stehen aus dem NREM-Schlaf in eine REM-Phase, die Haltemuskulatur verliert plötzlich ihre Spannung – und die Tiere kollabieren. Dabei knicken die Vorderbeine ein, die Fesselköpfe und Vorderfußwurzelgelenke schlagen am Boden auf.

Junge Pferde mit starker Muskulatur können den Sturz oft noch rasch genug auffangen, um Verletzungen zu vermeiden. Ältere Tiere schaffen das mitunter nicht mehr und kollabieren vollständig, sodass sich auch an den Hinterbeinen oder Hüfthöckern Verletzungen zeigen können. Manche Pferde entwickeln sogar Strategien gegen das Fallen und positionieren sich bewusst in einer Ecke oder an einer Wand, um ihren Sturz abzufangen. Das beweist, wie tief ihr Instinkt sitzt, sich in einer unsicheren Situation nicht durch Hinlegen angreifbar zu machen, und lässt nachspüren, wie ausweglos sich die Zwickmühle zwischen Sicherheits- und Ruhebedürfnis für diese Pferde gestaltet.

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Sozialstress - ausgelöst z. B. durch einen ungeliebten Boxennachbarn - kann Pferde davon abhalten ausreichend zu schlafen.    

Was Pferde wachhält

Bei Pferden, die unter REM-Schlafmangel leiden, können folgende Faktoren Auslöser sein oder die Problematik verschlimmern. Überprüfen Sie, ob eine Veränderung Ihrem Pferd hilft.

  • Schmerzen, z. B. Gelenks- oder Bauchschmerzen, die das Ablegen und/oder Aufstehen betreffen, können Pferde davon abhalten, sich ausreichend oft hinzulegen.
  • Verhaltensstörungen wie Koppen, Weben, Boxenlaufen usw. deuten auf ein stressauslösendes Haltungsproblem hin, das auch mit Schlafmangel einhergehen kann.
  • Depressionen können zu erhöhter oder verringerter Schlafdauer führen, oft ist der Schlaf depressiver Pferde aber in beiden Fällen nicht mehr ausreichend erholsam für sie.
  • Ortswechsel, veränderte Haltungsbedingungen und Tagesrhythmen, z. B. in einem neuen Stall, können den Schlaf-Wach-Rhythmus (kurzfristig) durcheinanderbringen.
  • Lärm oder (zu helle) Beleuchtung im Ruhebereich lassen Pferde nicht abschalten.
  • Unter sozialem Stress oder Isolation fühlen sich Pferde nicht sicher aufgehoben und bleiben in ständiger Alarmbereitschaft.
  • Rutschiger, nasser, kalter oder zu harter Boden sowie fehlende oder falsche Einstreu machen das Ablegen oder Aufstehen für die Pferde schwieriger oder sogar schmerzhaft, und die Liegedauer verringert sich.
  • Studien zeigen, dass Muskelstoffwechsel und -funktion einem Tagesrhythmus unterliegen, zugleich beeinflusst Muskelaktivität auch den Schlaf(rhythmus). Ob und wie Training den Schlaf des Pferdes verbessern kann, muss allerdings erst eingehend untersucht werden.
  • Auch Jahreszeit, Klima, Umgebungstemperatur und -feuchtigkeit beeinflussen die Qualität des Schlafs. Wie der Temperaturhaushalt des Pferdekörpers durch Scheren oder das Tragen einer Decke beeinträchtigt wird und welche Auswirkungen das auf den Schlaf haben kann, ist ebenfalls noch nicht ausreichend erforscht.

Komplexe Diagnose und Therapie

Schlafmangel ist – vor allem wenn er schon länger besteht – häufig zugleich Ursache und Auswirkung von Stress, und daher auch veterinärmedizinisch sehr schwer zu interpretieren. Oft führen erst typische Symptome eines bereits dauerhaft übermüdeten Pferdes zu einer Diagnose. Seine Erschöpfung wird nicht oder erst sehr spät als solche erkannt. Denn die Aufklärung der Pferdehalter:innen ist leider immer noch nicht so groß, dass typische kleine, oberflächliche, nicht mehr verheilende Verletzungen – z. B. an den Fesselköpfen der Vorderbeine, den Vorderfußwurzelgelenken oder Sprunggelenken – sofort als Resultate einer Pseudo- Narkolepsie erkannt werden. Es mangelt an generellem Bewusstsein und Wissen über das Ruheverhalten des Pferdes. Und auch die Forschung zum equinen Schlafmangel, besonders in Hinblick auf seine Ursachen und Therapiemöglichkeiten, steckt noch in den Kinderschuhen.

Sicher ist: zu wenig Platz zum Liegen, zu wenig Einstreu, sozialer Stress und Schmerzen in Verbindung mit dem Hinlegen oder Aufstehen sind häufige Auslöser für Pseudo-Narkolepsie. Oft sind die anfänglichen Veränderungen im Verhalten eines betroffenen Pferdes aber schleichend. In Zeiten größerer Stressbelastung, z. B. nach einem Stall- oder Herdenwechsel oder Verlust eines Freundes, und besonders auch im Alter wird das Problem dann akut – und die Symptome sind nicht mehr zu übersehen.  

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Studien haben gezeigt: Auf reichlich sauber eingestreutem Untergrund schlafen Pferde länger und besser, als auf einer harten, verschmutzten Bettstatt.
© www.Slawik.com

Weitere Forschung dringend nötig

Viel zu viele Pferde leiden unter Haltungsbedingungen, die sie nicht schlafen lassen. Studien zum Einfluss verschiedener Einstreuarten und -dicken und zur Beleuchtung im Stall haben bereits gezeigt, wie wichtig eine angenehm weiche, warme, trockene Liegefläche ohne helle Beleuchtung für Pferde ist. Geräuschempfindliche Pferde können unter Umständen von ruhiger nächtlicher Musik im Stall profitieren.

Wie sehr Trainingsintensität und -rhythmen, Sozialkontakte, Veränderungen des Lebensumfelds oder auch kurze Ausflüge auf Turniere, Kurse etc. die Schlafqualität von Pferden beeinflussen, ist aber bis jetzt kaum erforscht. Was wir in jedem Fall tun können: Genau hinschauen, ob unsere Pferde gut und gesund schlafen, und uns bewusst werden, dass der Schlaf ein genauso wichtiger Aspekt guter Pferdehaltung ist wie gesunde Fütterung und Bewegung.