Haltung

Herde oder Risiko? Der große Irrtum über Weideverletzungen

Ein Artikel von Redaktion | 17.06.2025 - 13:42
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Ein Muss für ein erfülltes Pferdeleben: freie Bewegung mit Artgenossen  © www.Slawik.com

In Deutschland leben 2025 schätzungsweise rund 1,3 Millionen Pferde. Ein Großteil davon wird in Einzelboxen gehalten – eine verbreitete Haltungsform, die individuelle Betreuung und Fütterung ermöglicht, jedoch den natürlichen Sozialkontakt einschränkt. Um diesen auszugleichen, erhalten viele Pferde tagsüber Weidegang in der Gruppe. Doch nicht alle Tiere profitieren davon.

Laut einer aktuellen europaweiten Umfrage, die 2025 im Auftrag von Agria durch das Marktforschungsinstitut Xtreme durchgeführt wurde, gibt eine kleine, aber signifikante Gruppe von Pferdehaltern an, ihre Tiere bewusst allein auf die Weide zu stellen – meist aus Sorge vor Verletzungen durch Tritte, Bisse oder Rangkämpfe.


Verletzungsrisiko überschätzt – Nutzen überwiegt deutlich

„Diese Sorge ist menschlich nachvollziehbar – aber aus tiermedizinischer Sicht oft unbegründet“, sagt Dr. med. vet. Tatjana Breiltgens, Tierärztin bei Agria Tierversicherung. „Das Risiko von schweren Verletzungen bei gut organisierter Gruppenhaltung ist sehr gering. Dafür profitieren die Pferde enorm von der Bewegung, dem Sozialkontakt und der psychischen Stabilität.“

Forschungsergebnisse und Fachveröffentlichungen stützen diese Einschätzung. So heißt es in mehreren Studien, dass das Verletzungsrisiko bei Gruppenhaltung „generell überschätzt“ wird. Die meisten Blessuren sind oberflächlich und gut behandelbar – schwerwiegende Verletzungen bleiben die Ausnahme.
 

Bewegung, Bindung, Balance – was Pferde auf der Weide lernen

Ein weiterer häufiger Grund für Einzelhaltung: Manche Besitzer glauben, ihre Pferde seien dadurch leistungsfähiger im Training. Doch auch das ist laut Breiltgens ein Irrglaube: „Pferde, die gemeinsam auf der Weide stehen, bewegen sich oft mehr und bauen so kontinuierlich Muskulatur und Ausdauer auf. Zudem profitieren sie mental von der Gesellschaft.“

Natürlich sind Konflikte innerhalb einer Herde möglich – besonders wenn die Zusammenführung übereilt erfolgt oder keine Rückzugsmöglichkeiten vorhanden sind. Deshalb rät Dr. Breiltgens zu einem behutsamen Vorgehen: „Pferde sollten sich langsam aneinander gewöhnen dürfen – etwa durch gemeinsame Spaziergänge, nebeneinanderliegende Boxen oder angrenzende Weiden, bevor sie tatsächlich zusammengeführt werden.“

Auch Stallbetreiber und Halter können zur Harmonie auf der Weide beitragen: durch genügend Platz, kluge Gruppenzusammenstellung und ausreichend Ressourcen für alle.„Natürlich gibt es Ausnahmen, etwa Tiere mit schlechten Erfahrungen oder mangelndem Sozialverhalten. Aber auch hier lassen sich oft Lösungen finden“, so Dr. Breiltgens.

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© Christiane Slawik www.slawik.com

Sozialkontakt ist kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis

Haltungskonzepte wie Einzelboxen mit Weidegang oder Gruppenpaddocks und Offenstallhaltungen zeigen, dass individuelle Betreuung und artgerechte Haltung kein Widerspruch sein müssen. Doch wo Pferde dauerhaft isoliert werden – aus Angst oder Unwissen – besteht Handlungsbedarf. „Jedes Tier, das unter Einsamkeit leidet, ist eines zu viel“, betont Dr. Breiltgens. „Pferde brauchen Futter, Bewegung und Training – aber genauso wichtig ist der Kontakt zu ihren Artgenossen. Das ist kein Luxus, sondern Ausdruck verantwortungsvoller Tierhaltung.“