Oben an der Flanke des Berges, wo das kleine Haus zweier alter Bauerleute sich an den steinigen Hang drückte, pfiff der Wind besonders garstig um die Hausecken. Dicker, grauer Nebeldunst verdeckte die Sicht hinunter ins Tal und auf die Lichter des weihnachtlich geschmückten Dorfs. Es war eine ziemlich trostlose Zeit, die sich die beiden mehr schlecht als recht vertrieben, während sie auf den Frühling warteten. Immerhin gab es eine Tradition, die ihnen jedes Jahr Freude machte: Mit ihren Noriker Rappen Stefan und Silvester fuhren sie am Christtag aus. Im Dorf wusste man das, und eine Schar Kinder mit ihren Eltern und Großeltern erwartete sie jedes Jahr mit großer Vorfreude am Dorfplatz. Dann durften die Kinder mitfahren – rund um den Platz, hinaus aufs freie Feld, in flottem Trab bis zum Waldrand und zurück über zwei Brücken, immer Richtung Kirchturm, bis sie wieder am Dorfplatz ankamen und die nächste Runde losging.
In diesem Jahr war die Menschenmenge am Dorfplatz besonders groß – es hatte sich wohl auch über die Grenzen des Dorfs hinaus herumgesprochen, dass man am Christtag hier Kutschenfahren konnte. Die letzte Runde war also erst spät am Nachmittag zu Ende, als es schon dunkel wurde. Langsam wurden die Pferde müde, und auch der Bäuerin und ihrem Mann waren die Hände, Füße und Nasen bereits kalt und rot geworden. Als der Bauer die Wagentür hinter den letzten kleinen Fahrgästen zuschlagen wollte, hörte er plötzlich ein dünnes Stimmchen: „Warte, Bauer. Ich bin noch nicht mitgefahren.“ Er blickte sich um und sah eine kleine Gestalt vor sich. „Es tut mir leid, wir sind fahren jetzt nach Hause, weiß du? Die Pferde müssen in den Stall, sie haben Hunger!“, erklärte er und beugte sich zu dem Kind hinunter. Dieses entgegnete nichts, sondern schaute ihn nur traurig an. Es war wohl ganz alleine gekommen. Der Bauer überlegte schnell. „Weißt du was, komm morgen Mittag wieder hierher zur Kirche. Wir fahren morgen eine Runde, was meinst du?“ Da machte sich ein breites Lächeln auf dem kleinen Gesicht breit, es drehte sich um und lief nach einem freudigen „Danke!“ davon.
So kam es, dass Stefan und Silvester in diesem Jahr die beiden Bauersleute mit ihrem kleinen Fahrgast am Stefanitag auf ein Neues durch die winterlich graue Landschaft zogen. Gerade waren sie am Waldrand angekommen, als das Kind zum ersten Mal ein Wort sprach. Bisher hatte es nur ganz still und versunken die nebelige Landschaft betrachtet. „Wie heißen die Pferde?“, fragte es. Die Bauersleute sahen sich an. „Stefan und Silvester heißen sie“, antwortete die Bäuerin schließlich. „Stefan und Silvester…“, murmelte das Kind leise, und daraufhin war wieder nichts von ihm zu hören, bis sie die erste Brücke erreichten. Es war eine hölzerne Brücke, die ordentlich rumpelte und polterte, wenn der Wagen darüberfuhr. Manchen Kindern jagte das einen Schrecken ein, aber Stefan und Silvester waren den Weg seit vielen Jahren gewohnt und störten sich nicht daran. Und trotzdem, seltsam … dieses Mal wurden die beiden plötzlich unruhig, als ihre Hufe die Brücke berührten. Stefan warf den Kopf in die Höhe, schnaubte und spitzte die Ohren. Silvester zog auf einmal gegen die Leinen, hob die Vorderbeine und setzte zu einem Sprung vorwärts an. Die Bäuerin, ganz verdattert über dieses unerklärliche Verhalten, rief „Ho!“ und „Langsam!“ und nahm die Leinen an, der Bauer hielt sich am Bock fest, weil der Wagen plötzlich einen Ruck machte, und vernahm zu seinem Erstaunen gerade jetzt wieder das dünne Stimmchen des Kindes: „Schnell, schnell, lauf Silvester!“ schien es zu murmeln. Der Bauer fuhr herum, plötzlich wütend, und sah das Kind im Wagen stehen und begeistert zusehen, wie die Pferde vorne außer Kontrolle gerieten. „Setz’ dich hin, du fällst hinaus!“, rief er entsetzt. Das Kind gehorchte nicht, aber um noch etwas zu sagen war es zu spät, denn jetzt gingen die Pferde vollends durch und der Wagen schoss in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Brücke und die gewundene Straße entlang auf die zweite Flussquerung zu. So schnell waren die Pferde unterwegs, dass den dreien im Wagen Hören und Sehen verging. Der Wagen polterte und quietschte und der Bäuerin wurde angst und bange, dass er ein Rad verlieren oder gar in der nächsten Kurve zur Seite kippen könnte. Wie von Sinnen galoppierten die beiden Rappen auf die nächste Brücke zu, die furchtbar schmal war. Die Bauersleute schlossen voller Grauen die Augen, als die Pferde den ersten Sprung auf das Holz machten.
Da wurde es plötzlich still um sie. Der Wagen stand still. Sie hörten das Schnauben der Pferde, die unerklärlicherweise auf einmal ruhig dastanden. Als sie ungläubig die Augen öffnete, wäre die Bäuerin vor Schreck fast vom Kutschbock gefallen. Der Bauer saß mit offenem Mund neben ihr und blickte aus runden Augen um sich. Alles war weiß, dick verschneit, und ein voller, silbrig strahlender Mond hang am Nachthimmel. Vor ihnen lag das Dorf, aus dessen Straßen Gelächter und Walzermusik und zwölf Glockenschläge zu ihnen herüberdrangen. Und schon knallten die ersten Feuerwerksraketen. „Wie …?“, stammelte der Bauer. Die Bäuerin konnte nichts antworten. Da fiel ihnen plötzlich das Kind wieder ein und sie drehten sich mit einem Ruck um. Es saß still und lächelnd auf der Sitzbank und in seinen Augen blinkten die Lichter des Feuerwerks. „Was hast du …?“, stammelte der Bauer wieder. Das Kind schüttelte nur den Kopf und sagte leise: „Das Pferd heißt ja Silvester, oder nicht?“ Sie starrten es verdutzt an. „Wisst ihr denn nicht, dass Pferde die Zeit schneller machen können, oder langsamer?“ Die Bauersleute schauten es nur stumm mit großen Augen an. Da sprach das Kind weiter: „Ja, sie lassen sie verfliegen oder stillstehen, sie können sie füllen und verschenken. Das weiß doch jedes Kind.“ Einige Sekunden lang sahen die beiden sich an und verstanden die Welt nicht mehr. „Aber … wieso ist es plötzlich Silvester? Es war doch erst Weihnachten!“, flüsterte die Bäuerin und blickte von dem Kind zu ihrem Mann, zu den Pferden und zum Feuerwerk am Himmel und wieder zurück. „Weil ich es mir gewünscht hab … Ich mag Silvester so gerne, ich wollte heute schon, dass Silvester ist.“ „Und unser Silvester …?“, sagte der Bauer und schaute ungläubig auf den mächtigen schwarzen Pferderücken vor ihm. Das Kind lachte. „Er hat mich daran erinnert, dass ich Silvester so gern mag.“ „Und dann war es plötzlich Silvester“, sagte die Bäuerin leise. Glauben konnte sie es noch immer nicht. „Ja!“, lachte das Kind. „Natürlich! Wenn man einem Pferd einen Herzenswunsch sagt, dann macht es ihn wahr. Das weiß doch jedes Kind.“ Es lachte vor Freude leise und das Feuerwerk tauchte sein Gesicht in bunte Farben. „Man muss sich nur trauen, zu wünschen!“