Ein Bild, das man leider immer wieder auf den Abreiteplätzen sieht: Bis an die Brust gezogene Pferdenasen, was ganz und gar nicht der klassischen Ausbildungslehre entspricht. © www.slawik.com
Sie zählt bereits mehr als 100 Lenze, die allseits zitierte Heeresdienstvorschrift (HDV) 12, die Reitinstruktion, in der das gesammelte Wissen der Kavallerieausbildung zusammengetragen worden war. Als „deutsche Methode“ oder „deutsche Reitlehre“ werden deshalb die aus der HDV 12 hervorgegangenen FN-Richtlinien für Reiten und Fahren heute noch gerne bezeichnet, dabei basiert diese Lehre auf dem Jahrhunderte alten Wissen vieler europäischer Reitmeister. Von systematischer Rollkur, Hyperflexion oder LDR war und ist dort allerdings nichts zu lesen. Waren die alten Meister einfach dümmer als heutige Reitgrößen? Oder waren sie nicht vielleicht sogar schlauer?
Bereits in den 1980er-Jahren schwappte schon einmal das Thema „Rollkur“, also die extrem tiefe Halseinstellung des Pferdes, von den Turnierplätzen in die Gazetten. Nicole Uphoff, vierfache Olympiasiegerin, trainierte ihren Rembrandt unter der Anleitung von Dr. Uwe Schulten-Baumer sen. in der bis dato höchstens von Springreiter Alwin Schockemöhle praktizierten und von einigen Springreitern nachgeahmten Art und Weise. Das Genick war nicht mehr höchster Punkt, wie es Jahrhunderte lang gelehrt worden war: Rembrandt berührte im Training mit der Nase beinahe seine Brust. Ein Aufschrei ging durchs Reitervolk. Nichtsdestotrotz reihten Pferd und Reiterin im weiteren Verlauf ihrer Karriere Erfolg an Erfolg und bestachen durch Harmonie und Eleganz. Nach Rembrandts Abschied aus dem Sport trat auch die Diskussion wieder in den Hintergrund. Zwar arbeitete auch Isabell Werth, selbst lange Jahre Schülerin von Schulten- Baumer, ihre Pferde extrem tief, doch so laut wie bei Nicole Uphoff wurde zunächst nicht mehr geschimpft.
FEI unter Zugzwang
Doch dann kamen die Niederländer, allen voran Anky van Grunsven. Während Schulten-Baumer zuvor alle Versuche, ihn zum Verfassen eines Buches über seine Ausbildungsmethode zu überreden, mit den Worten „Ich habe keine eigene Methode, ich richte mich nach der klassischen Reitlehre und individuell nach den Pferden“ abgelehnt hatte, propagierte van Grunsvens Trainer und Ehemann Sjef Janssen die tiefe Halseinstellung vehement als neue und moderne Ausbildungsmethode. Die Diskussion um das Für und Wider war voll entbrannt und lodert bis heute.
Inzwischen arbeiten vor allem im Spitzensport, aber auch eine Etage darunter, viele ihre Pferde in extrem enger Halseinstellung, viele davon im Training mit Hilfe von Schlaufzügeln. Und selbst in den Prüfungen scheinen Richter die Haltung von Pferden mit der Stirnlinie leicht hinter der Senkrechten großzügiger zu bewerten als früher. Hauptsache, die Lektionen gelingen möglichst spektakulär. Auch diese Gewöhnung an enge Pferdehälse und waagerecht durchfallende Kandaren stehen immer wieder in der Kritik, sind es doch gerade die (internationalen) Richter, die mit ihren Urteilen einen erheblichen Einfluss darauf nehmen könn(t)en, wohin sich die Reiterei entwickelt. Geritten und trainiert wird schließlich das, was hoch benotet wird.
LDR ist nicht nur bei den DressurreiterInnen beliebt – auch SpringreiterInnen wenden diese umstrittene Methode, meist noch dazu mit anstehenden Schlaufzügeln, an. Und auch im Westernreitsport ist Rollkur beileibe kein Fremdwort. © www.slawik.com
Als schließlich der Streit um die „neue“ Trainingsmethode international sogar in der sonst eher wenig pferdeaffinen Tages- und Boulevardpresse geführt wurde, sah sich auch die Internationale Reiterliche Vereinigung (FEI) genötigt, sich mit dem Thema intensiver zu beschäftigen. Aus Rollkur wurde per FEI zunächst Hyperflexion, später dann LDR (low, deep, round), was letztlich genau beschreibt, was da zu sehen ist: tief, tief, rund. Man könnte eigentlich auch sagen: tief, tiefer, noch tiefer geht nicht.
Während die FEI Rollkur und Hyperflexion als aggressive Methoden outete und verbot, erlaubte sie LDR als eine Technik des Flexionierens, zu empfehlen nur für erfahrene Profireiter und auf zehn Minuten am Stück beschränkt. Eine gute Entscheidung, meinten die einen. Wortklauberei, schimpften die anderen. Spätestens hier traten nun die Experten auf den Plan, und ein Gutachten jagte das nächste. Mit dem Ergebnis, dass es eigentlich kein wirkliches Ergebnis gibt.
Schwierige Beweisführung
Denn so richtig nachweisen ließ sich die schädliche Wirkung der tiefen Halseinstellung bisher nicht. Ihre Unschädlichkeit allerdings auch nicht. Wie auch? Eine wirklich aussagekräftige Untersuchung müsste auf jeden Fall eine Langzeitstudie sein, bei der eine ausreichend große Gruppe von gleich alten Pferden über Jahre mit der LDR-Methode trainiert würde, eine Vergleichsgruppe streng nach klassischen Ausbildungsprinzipien. Diese Pferde müssten vorher alle auf Herz und Nieren untersucht sein, müssten alle aus gesunden Zuchtlinien stammen (um genetische Dispositionen für bestimmte mögliche Veränderungen von vornherein weitestgehend ausschließen zu können), müssten alle ein möglichst vergleichbares Exterieur und sogar ähnliches Interieur haben (wie sonst ließe sich die psychische Komponente erfassen?), müssten alle unter gleichen Haltungsbedingungen leben und idealerweise auch alle vom selben Reiter geritten werden. Nur so könnten am Ende alle relevanten Daten seriös miteinander vergleichbar sein, einige davon sogar erst nach der pathologischen Untersuchung. Dass dieser Versuchsaufbau irgendwie nicht machbar ist, versteht sich von selbst. Was bleibt, sind Teiluntersuchungen, die den Streit immer wieder anfachen, aber keine wirkliche Klärung bieten.
So haben Forscher des Graf-Lehndorff-Instituts, das dem brandenburgischen Haupt- und Landgestüt Neustadt/Dosse angegliedert ist, untersucht, ob bei in enger Halseinstellung gearbeiteten Pferden die Atmung behindert wird. Dazu longierten sie 16 Pferde mal mit lang verschnallten Ausbindezügeln, mal mit extrem kurzen. Ihr Ergebnis: Bei der engen Verschnallung blieb den Pferden tatsächlich die Luft weg, die Atemwege verengten sich, der Puls stieg. Außerdem, so fanden die Wissenschaftler um Professor Dr. med. vet. Christine Aurich von der VUW heraus, verspannten sich diese Pferde und drückten ihre Rücken weg.
In dieselbe Richtung zielt ein Aufsatz der Dänin Eva Lydeking-Olsen. Die Ernährungs- und Psychotherapeutin, die sich besonders mit der Verbindung zwischen Neurochemie und Ernährung in Beziehung zu Psychologie, Stress und Entwicklungsstörungen beim Menschen beschäftigt, hat sich die Mühe einer umfangreichen Literaturrecherche und -analyse gemacht und sich dabei auf mögliche neurochemische (Neben-)Effekte der tiefen Halseinstellung beim Pferd konzentriert. Die eingeschränkte Atmung, so ihre These, könnte zu einer Säure-Base-Verschiebung und darüber zu einer Aktivierung des endogenen (körpereigenen) Doping-Systems und einer Abgabe von Endorphinen führen. Sie empfiehlt dringend die Durchführung unabhängiger Forschungen zu diesem Themenbereich (Quelle: http://equimondi.de) Biomechanische Untersuchungen hat es dagegen bereits gegeben, allerdings mit eher unbefriedigenden Ergebnissen.
Mit dem Niederländer Sjef Janssen – Trainer und selbst einmal erfolgreicher Dressurreiter– und seiner bekanntesten Schülerin Anky van Grunsven wurde LDR wieder zum Thema. © Tomas Holcbecher
Wenig eindeutig war eine internationale Studie der Universitäten Uppsala, Utrecht und Zürich. Sie befasste sich unter anderem mit den Bewegungen der (ohne Reiter auf dem Laufband) untersuchten Pferde, die in Rollkurposition tatsächlich eine höhere Bewegungsamplitude im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule und der Lendenwirbelsäule aufwiesen. Die Befürworter der tiefen Halseinstellung werteten dies als Beweis für eine bessere Dehnung des Rückens und einen damit verbundenen besseren Schub nach vorn. Die Kritiker dagegen leiteten aus dem Ergebnis ab, dass die Hinterbeine nicht mehr unter den Schwerpunkt fußen könnten, was später an der Uni Zürich bei Untersuchungen unter dem Reiter erhärtet wurde. Doch wie auch immer – eine Studie mit nur sieben Probanden ist statistisch nicht gerade aussagekräftig.
Anders sieht es da mit der Diplomarbeit der jungen Biologin Kathrin Kienapfel aus, angefertigt an der Ruhruniversität Bochum. In ihren Untersuchungen zum Thema „Bewegungsmechanik und Ausdrucksverhalten von Reitpferden bei verschiedenen Halsstellungen“, immerhin an 60 Pferden durchgeführt, stellt sie unter anderem fest, dass die Zahl der Missfallensäußerungen wie Sperren, Kopfschlagen, Schweifschlagen oder Rückwärtsgehen bei den Pferden, die aufgerollt geritten wurden, achtmal höher lag als bei Pferden, die mit der Stirnlinie vor der Senkrechten gingen. Ein Blick in die Reithallen und auf die Abreiteplätze dieser Welt bestätigen ihre Erkenntnisse. Entkräftet hat ihre Arbeit dagegen das oftmals gern gegen die Rollkur eingesetzte Argument, Muskeln und Nackenbänder würden bei der tiefen Einstellung überdehnt. Dies, so das Ergebnis der Studie, könne nicht bestätigt werden – ebenso wenig konnte aber auch die pro Rollkurposition angeführte Behauptung bestätigt werden, die extrem tiefe Halseinstellung würde einen Beitrag zur Aufwölbung des Rückens leisten.
Fixiert zu mehr Beweglichkeit?
Was aber leistet die tiefe Halseinstellung, das LDR, denn nun überhaupt? Offenbar zumindest spektakulärere Bewegungsabläufe, die publikumswirksam in Szene gesetzt und mit Medaillen sowie Schwindel erregend hohen Pferdepreisen belohnt werden. LDR soll vor allem den Hals (noch) beweglicher machen. Natürlich kann ein Pferd von Natur aus seinen Hals so weit verbiegen, um sich am Buggelenk zu kratzen – was annähernd der Kopf- Hals-Haltung beim Reiten in LDR-Haltung entsprechen würde. Das erlaubt ihm die Beweglichkeit seines Halses.
Auch wir können, trotz auf deutlich kürzerem Hals verteilten sieben Halswirbeln, unseren Kopf senken und unser Kinn an die Brust drücken. Die hinteren Nackenmuskeln, vielleicht ein wenig steif und verkürzt, dehnen sich dabei. Anfangs vermutlich mühsam, dann möglicherweise sogar ganz angenehm, vor allem, wenn diese Dehnung ein wenig diagonal ausgeführt wird. Ein paar Sekunden so halten, dann wieder lösen. Ein gutes Gefühl. Aber wollen Sie das nun wirklich über einen längeren Zeitraum machen und dann womöglich noch über Fremdeinwirkung?
Machen Sie doch einfach den Test und fixieren Sie mit Hilfe eines „Hilfszügels“ Ihren Kopf in der „Kinn-an-die-Brust-Haltung“. Oder nehmen Sie eine Stange oder ein Seil in den Mund bitten jemanden, Ihren Unterkiefer damit nach hinten zu ziehen. Spüren Sie schon was? Bereits nach wenigen Minuten wird Ihnen irgendwo irgendwas weh tun. Um die Übung noch ein wenig zu erschweren, sollten Sie nun eine Runde spazieren gehen. Gut, viel sehen können Sie in dieser Haltung nicht. Was soll’s. Ihr Hals wird auf jeden Fall beweglicher.
Low, deep & round
… – kurz LDR genannt – ist aktuell wieder in aller Reitermunde. Doch wie genau sieht dieses LDR aus, und worin sehen die Befürworter den Sinn und Zweck? Die Befürworter erklären, LDR sei ein Trainingssystem im Spitzensport, das zur besseren Gymnastizierung der Pferde führe. Die Beweglichkeit – vor allem des Halses – werde verbessert, außerdem würden die Pferde durchlässiger, Blockaden würden gelöst und die Schulterfreiheit der Pferde werde erhöht. In der Theorie beschreiben LDR-Reiter die „Hilfengebung“ als ein leichtes Flexionieren (also den Pferdekopf mittels Zügelzug deutlich nach links bzw. rechts bewegen), danach begebe sich das Pferd bei ruhig stehender Reiterhand vorübergehend in die gewünschte Haltung (Pferdenase annähernd an der Pferdebrust). Wie bei vielen anderen Ausbildungsmethoden liegen aber zwischen Theorie und Praxis Welten: Auf den Abreiteplätzen und leider auch in den Prüfungen sind waagrecht stehende Kandarenbäume (der Kopf des Pferdes wird über die Hebelwirkung der Kandare in die gewünschte Position gebracht und dort gehalten) zu sehen, im Training werden die Pferdeköpfe häufig über Schlaufzügel in die gewünschte Position gezerrt.
Negative Außenwirkung
Zynische Worte, die aber vielleicht doch ein wenig zum Nachdenken anregen. Warum soll ein Pferd so viel anders empfinden? Der gesunde Menschenverstand sollte jeder Reiterin und jedem Reiter sagen, was bei der Ausbildung Sinn macht und was nicht – und was mit ruhigem Gewissen zu vertreten ist. Dies ist letztlich vor allem eine Frage von Ethik und Ehre. Darüber hinaus bleibt bei allem Hin und Her und Pro und Kontra der diversen Studien und ihren Ergebnissen über Rollkur, Hyperflexion und LDR eine Tatsache im Raume stehen, die viel bedeutender und bedrohlicher ist als die Frage, wer nun Recht hat, die Gegner oder die Befürworter: die Frage nach der Außenwirkung.
Während Reiten einst als edel, elegant und für viele Nichtreiter durchaus erstrebenswert erschien, wird es inzwischen häufig assoziiert mit Zwang, Tierquälerei und Erfolgsgier. Umfaller im Sport, die erst die tiefe Halseinstellung öffentlich verteufeln, um sie später bei ausbleibendem Erfolg selbst anzuwenden, tun ein Übriges, die Situation noch zu verschärfen. Ein gefährlicher Trend. Und längst wird die Diskussion nicht mehr sachlich geführt. Jeder, dessen Pferd mal hinter die Senkrechte gerät, wird als möglicher Tierquäler beäugt.
Selbsternannte Experten messen das Können oder Nicht-Können eines Reiters nur noch in Zentimetern der Stirnlinie vor oder hinter der Senkrechten sowie in der momentanen Halshöhe in Bezug zur Wurzel des Quadrats. Wie es um den übrigen Pferdekörper bestellt ist, interessiert – oder besser sehen – sie nicht. Schwingender Rücken, tätige Hinterbeine, Losgelassenheit in Verbindung mit Ausdruck – alles egal, Hauptsache die Pferdenase ist vorn. Geometrie und Mathematik statt Wissen, Erfahrung und Gefühl.
Dass jede Art von schlechtem Reiten schädlich sein kann, auch im Bereich der reinen Freizeitreiterei, wird von manchen militanten Stirnlinie-vor-die-Senkrechte-Vertretern gern mal ausgeblendet. Das ganz kurze „tiefer Einstellen“ eines Pferdes hat nämlich nicht zwangsläufig etwas mit LDR oder Rollkur zu tun, sondern kann in bestimmten Momenten in Verbindung mit perfekt gesetzten vortreibenden Hilfen zu einer besseren Nachgiebigkeit des Pferdes und damit auch zu einer feineren reiterlichen Einwirkung führen. Wichtig ist dabei jedoch immer, dass der Reiter über ein großes technisches Know-how verfügt, damit er auf diesen kurzen Moment des Durchhaltens oder sanften Durchstellens (eine einmalige Rechts-Links-Lockerung des Genicks, die nicht mit Riegeln verwechselt werden darf) umgehend wieder eine nachgebende Zügelhilfe folgen lassen kann, bei der sich das Pferd auch wieder vertrauensvoll nach vorn ans Gebiss herandehnen und ein positiver Spannungsbogen entstehen kann. Und genau hier wären wir wieder bei der klassischen Ausbildung des Pferdes, wie sie schon vor 100 Jahren systematisiert und festgeschrieben wurde und niemals Anlass zur Klage gab.
Rollkur, Hyperflexion oder LDR – als Methoden sollten sich diese Auswüchse schon wegen des Diskussions- und Angriff-Potenzials von selbst verbieten. Wenn sich der Unterschied zwischen verbotener Hyperflexion und erlaubter LDR schon den meisten Fachleuten nicht erschließt, wie sollen ihn dann Außenstehende nachvollziehen? Die Gefahr, dass alle Reiter über einen Kamm geschoren und zu Unrecht verurteilt werden, ist groß. Googelt man die Begriffe LDR+Rollkur gemeinsam, gibt es 438.000 Einträge und damit 438.000 Einträge zu viel. Dasselbe gilt für die 6280 Treffer bei der Google-Bildersuche. Erfolg darf nicht alles sein. Gutes und sympathisches Reiten ist vielmehr auch eine Frage der Ethik – und damit auch der Zukunft des Reitsports.
Nachdem es mit Doppelweltmeister, Rekordhalter und Wunderpferd Totilas nach seinem wechsel zu Matthias Rath nicht so lief wie geplant, holte sich die zuvor stets die klassischen Prinzipien hochhaltende Famillie Linsenhoff-Rath Hilfe beim umstrittenen LDR-Verfechter Sjeff Janssen. Bereits wenig später sah sich Matthias Rath wegen seiner rollkurähnlichen Abreittechnik beim CDI in Hagen a. T. W. heftiger Kritik ausgesetzt. © Tomas Holcbecher
Chronik des tief Einstellens
Die Geschichte der Rollkur/Hyperflexion und des LDR ist eine recht junge.
1970er Jahre: Alwin Schockemöhle arbeitet seinen Warwick Rex mit extrem tiefer und runder Halseinstellung. Die Bezeichnung Rollkur gab es damals dafür noch nicht.
1980er Jahre: Dr. Uwe Schulten-Baumer sen. lässt seine Schüler, darunter Nicole Uphoff, die Pferde mit tief eingestelltem, engen Hals trainieren.
1992: Dr. Heinz Meyer – Autor beim Deutschen Reitsportmagazin St. Georg – prägt in einem Artikel über das Abreiten auf internationalen Turnieren den Begriff Rollkur.
2005: Im St. Georg beschäftigt sich der Artikel „Dressur pervers“ mit der extrem tiefen Halseinstellung vor allem der Pferde niederländischer Reiter und prangert erneut die Rollkur an.
2006: Bei einem von der FEI organisierten Meeting einigen sich 50 Experten aus Sport, Tiermedizin und Verbänden auf den neuen Begriff Hyperflexion, der den Begriff Rollkur ablösen soll. Diese Ausbildungstechnik sei hilfreich, um einen Grad von Längsbiegung im mittleren Halsbereich zu erreichen. Die Haltung in der Hyperflexion könne von einem Pferd aber nicht über einen längeren Zeitraum gehalten werden und solle auch nur von erfahrenen Trainern angewendet werden. Weitere wissenschaftliche Untersuchungen zur Wirkung der Hyperflexion wurden angekündigt. Im selben Jahr befürworten Sjef Janssen, Anky van Grunsven und Dr. Rene van Weeren beim Global Dressage Forum die Hyerflexion und sprechen bereits von LDR.
2007: Die niederländische Dressurreiterin und -trainerin Coby van Baalen longiert das Pony Power and Paint eng verschnallt in tiefster Halseinstellung. Ein Fotograf macht es öffentlich, die Emotionen kochen hoch. Gleichzeitig sieht die FEI keinen Bedarf, wissenschaftliche Studien in Auftrag zu geben oder zu unterstützen. Die Begründung: Auf Turnierplätzen werde das Hyperflexionieren kaum noch angewendet.
2008: Die FEI ändert ihre Einstellung zu ihrem zwei Jahre zuvor geprägten Begriff Hyperflexion. In einer Pressemitteilung hieß es: „Das Veterinär- Komitee hat festgestellt, dass zwar keine klinisch nachweisbaren Nebeneffekte mit der Hyperflexion in Verbindung gebracht werden können, es bestehen aber ernsthafte Bedenken betreffs des Wohlbefindens des Pferdes, wenn diese ,Technik‘ nicht korrekt angewendet wird. Die FEI verurteilt Hyperflexion in jeder reitsportlichen Disziplin als ein Beispiel von mentalem Missbrauch. Die FEI betont, dass sie diese Trainingsmethode nicht unterstützt.“
2009: Der schwedische Dressurreiter Patrick Kittel wird während des Abreitens des Pferdes Watermill Scandic, das er über einen langen Zeitraum in Hyperflexion arbeitet, gefilmt. Auf dem Video ist auch noch die blau angelaufene Zunge von Scandic zu sehen. Die Diskussionen um Rollkur/Hyperflexion nehmen an Schärfe zu.
2010: Klaus Balkenhol schickt Anfang Februar einen offenen Brief, unterschrieben von 26 internationalen Top-Reitern, an die FEI und protestiert gegen geplante Reglementänderungen, die bei der FEI-Tagung wenige Tage später diskutiert werden sollen. Rund 40.000 Menschen unterschreiben eine Petition gegen Rollkur & Co und überreichen sie der FEI. Die FEI beschließt, ihr Reglement nicht zu ändern und keine weiteren Trainingsmethoden dort aufzunehmen. Der 2006 gewählte Begriff Hyperflexion wird aber neu definiert und als Ergebnis aggressiven Reitens abgelehnt. Stattdessen wird künftig von der erlaubten LDR gesprochen, die ein Flexionieren des Pferdehalses ohne Gewaltanwendung sei. Erlaubt ist LDR für jeweils zehn Minuten, dann kurze Pause, dann wieder zehn Minuten und so fort.
2011: Die öffentlichen Diskussionen über die Begriffe Rollkur, Hyperflexion und LDR reißen nicht ab.
2012: Totilas-Reiter Matthias Alexander Rath kündigt an, künftig mit LDR-Papst Sjef Janssen trainieren zu wollen. Ein Aufschrei geht durch Medien und Reiterwelt. Wenig später feiert Rath beim Turnier in Hagen a. T. W. ein beachtliches Comeback mit Totilas, sorgt aber mit seinem Abreiten mit extrem enger Halseinstellung und quer gezogenen Kandarenanzügen erneut für Negativschlagzeiten. Wenige Tage vorher hatte das Amtsgericht Starnberg eine Pferdehalterin wegen Reitens in Rollkur und reiner Boxenhaltung ohne Freilauf zu 180 Tagessätzen á 150,– Euro verurteilt. Die 44-Jährige, die in Berufung ging, gilt damit zunächst als vorbestraft.
2013: Die Rollkur gerät erneut ins Gespräch, nachdem der WDR in einem kritischen Beitrag über den Pferdesport Isabell Werth beim Training ihrer Nachwuchsstute Bella Rose filmt. Sequenzen zeigen die erfolgreiche Dressurreiterin und ihre Fuchsstute in Momenten mit sehr tiefer Halseinstellung. Auf die Szenen angesprochen, reagieren Dressurtrainer Jonny Hilberath und Isabell Werth mit Empörung und Unverständnis. In sozialen Medien brandet ein Sturm der Entrüstung auf.
2014: Die Schweiz verbietet als erstes land per Gesetz die Rollkur. Die deutsche FN veröffentlicht nach einem Runden Tisch einen detaillierten Kriterienkatalog, der Turnierrichtern auf dem Abreiteplatz Entscheidungshilfe und Rückendeckung geben soll, wenn es darum geht, die Richtlinien der FN durchzusetzen.
2015: Im Zuge der Europameisterschaften in Aachen werden Trainingsbilder des niederländischen Dressurreiters Edward Gal und seines Spitzenpferdes Undercover veröffentlicht, die den Rappen in extrem tiefer und enger Halseinstellung zeigen. Nach Mannschafts-Gold und Platz zwei im Team-Grand-Prix wird das Paar im Grand Prix Spécial wegen Blutes am Pferdemaul vom Chefrichter abgeklingelt. Der zu diesem Zeitpunkt extrem spannige und nervöse Undercover hatte sich auf die Zunge gebissen. Totilas, der für die Heim-EM nach langer Verletzungspause reaktiviert wurde, erhält nach unübersehbaren Taktunreinheiten im Trab die zweitniedrigste Grand-Prix Bewertung seiner gesamten Karriere. Der Millionenhengst wird einen Tag später von der EM zurückgezogen, eine MRT-Untersuchung in einer belgischen Klinik ergibt ein Knochenödem am linken Hinterbein. Die Folgen nicht pferdegerechten Trainings?
BS/PS