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Bei der Desensibilisierungauf Angst auslösende Außenreize ist vor allem bei überreaktiven Pferden viel Fingerspitzengefühl gefordert. © www.slawik.com

Mit Gefühl: Pferde richtig desensibilisieren

Ein Artikel von Sibylle Ortner/PS | 30.10.2015 - 10:57
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Bei der Desensibilisierungauf Angst auslösende Außenreize ist vor allem bei überreaktiven Pferden viel Fingerspitzengefühl gefordert. © www.slawik.com

Als Fluchttier wird das Pferd bei Verdacht auf Gefahr sein Heil immer im Auf und Davon sehen, überreaktive Pferde umso früher und umso heftiger. Desensibilisierung hilft, diese Reizschwelle anzuheben, damit das Pferd nicht mehr auf jede Kleinigkeit mit Anspannung oder Flucht reagiert. Bei besonders umweltorientierten Pferden – also Tieren, die ihre Umgebung immer sehr genau im Auge haben und die dann meist auch eher mittelmäßig konzentriert beim Reiter sind – ist dies fast eine Lebensaufgabe, allerdings kann mit Hilfe von ruhigem und wohl dosiertem Desensibilisierungstraining auch bei solch überreaktiven Pferden eine stetige Verbesserung erzielt werden. Positiver Nebeneffekt: Bei diesem Training wird auch das Vertrauen zwischen Mensch und Pferd gestärkt, man lernt sein Pferd besser kennen – und Spaß macht es außerdem!

Alltagstauglich

Für viele Pferde sind schon ganz simple Dinge wie ein bunter Blumentopf am Viereckrand, eine wehende Fahne am Horizont oder alltägliche Geräusche wie das Läuten der Kirchenglocken furchteinflößende Dinge. Deshalb kann man zur Desensibilisierung alles benutzen, was dem Pferd gruselig erscheint: ein knisternder Regenschutz, ein auf und zu klappender Regenschirm, Luftballons, eine ausfaltbare Landkarte, ein mit leeren Dosen gefüllter „Klappersack“ (der bei besonders Fortgeschrittenen auch schon mal hinter dem Pferd her gezogen werden kann), rasselnd rollende Hula-Hoop-Reifen, unter dem Pferd durchrollende oder auch sanft (!) auf das Pferd zugeworfene Bälle, Angst einflößende, herumspritzende und klickende Gartensprenger oder Plastikfolien am und ums Pferd. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt!

Tipp: Konfrontieren Sie Ihr Pferd in aller Ruhe mit diesen Angst einflößenden Dingen und drängen Sie es zu nichts! Bei den meisten Pferden schlägt die Angst nach geraumer Zeit (und mit dem notwendigen Abstand z um Gegenstand) in Neugierde um – nutzen Sie diese Verhaltensweise und lassen Sie das Pferd von sich aus die Dinge untersuchen! Das folgende Akzeptieren der Gegenstände und Aktionen härten das Pferd ab und bereiten es darauf vor, auch in anderen ungewöhnlichen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren.

Bodenhaftung

Übungen, bei denen das Pferd etwas Ungewöhnliches überqueren muss, eignen sich gut als Vorbereitung auf Situationen wie sie vor allem beim Ausreiten immer wieder auftauchen können. Brücken oder vom Wind verwehte Plastik- oder Papiersackerln sind Klassiker, die Pferde in Angst und Schrecken versetzen können. Zum Teil können solche Situationen im vertrauten Viereck nachgestellt werden und somit in Ruhe geübt werden. Zeigen Sie Ihrem Pferd etwa am Boden liegenden Lametta-Girlanden, leere Plastikflaschen oder Autoreifen. Noch aufregende r wird es, wenn das Pferd unbekanntes Terrain dann auch noch betreten muss: zum Beispiel beim Überqueren einer Plastikplane oder einer „Brücke“ (eine extra verstärkte, leicht erhöhte Platte aus soliden Holzbrettern). Auch niedrige Sprünge, die aber ungewöhnlich aussehen (zum Beispiel, weil eine Decke darauf liegt oder ein Plastiksackerl daran montiert wurde) kann man zur Desensibilisierung mit einbeziehen.

Tipp: Direkt im Gelände lassen sich für gewöhnlich sehr leicht Trainingsmöglichkeiten finden – die desensibilisierende Bodenarbeit beschränkt sich nicht auf den Reitplatz oder die Reithalle! Das Durchschreiten von Bächen und seichten Lacken ist für jedes Pferd eine gute Übung. Auch das Überwinden von Bodengittern bereitet vielen Pferden Sorgen. Lässt die Verkehrslage ein sicheres Üben zu, kann man hier ein ganz praxisbezogenes Anti-Schrecktraining machen. Auch hier gilt: In der Ruhe liegt die Kraft!

Augen zu und durch

Für viele Pferde gehören das Unter-etwas-durch- Gehen und Engpässe-Bewältigen zu den größten Herausforderungen. Vor allem Dinge, die ihnen zu niedrig erscheinen oder seltsame Gebilde, die beim Durchgehen ihren Körper berühren, meiden sie nur allzu gerne. Auch wenn dies auf den ersten Blick nichts ist, was im Alltag beim Reiten auf dem Platz, in der Halle oder im Gelände zum Problem werden könnte, hilft die Desensibilisierung, die „heißen Öfen“ allgemein abzukühlen.

Tipp: Der berühmte „Flattervorhang“ lässt sich leicht aus einem Stück Schlauch, das als Bogen zwischen zwei Hindernis-Stehern montiert wird und auf dem dann z. B. Streifen aus Plastikfolie befestigt werden, basteln. Die herabhängenden Streifen können später noch mit klingelnden Glöckchen oder klappernden leeren Plastikflaschen aufgepeppt werden. Eine ähnliche Übung ist die „Wäscheleine“. Das Pferd muss hierbei zwischen zwei dicht nebeneinander hängenden Leintüchern oder Planen durchgehen und wird dabei großflächig von Stoff oder Plastik gestreift.

Reizüberflutung vermeiden

Fingerspitzengefühl ist das Stichwort bei der Arbeit mit reaktiven Pferden und bei der Desensibilisierung auf Angst auslösende Außenreize, weiß Verhaltensbiologin Marlitt Wendt. "Wer die Reizschwelle seines Pferdes erhöhen, es also an unbekannte Erfahrungen gewöhnen möchte, der tut gut daran, eine Beobachtungsphase vorzuschalten: Zum einen gilt es, genau herauszufinden, welche Objekte, Handlungen, Geräusche oder Kombinationen aus mehreren Reizen die Angstreaktion hervorrufen. Zum anderen ist es außerordentlich wichtig, die genaue Intensität des Reizes zu kennen, wenn das Pferd sich genötigt sieht zu reagieren." Eine sinnvolle systematische Desensibilisierung basiere darauf, dass man den Schreck auslösenden Reiz in einer dem Pferd gerade noch annehmbaren Intensität präsentiert und es für seine gute Mitarbeit belohnt", erklärt die Expertin. "Der Reiz darf dabei nicht so schwach sein, dass das Pferd ihn überhaupt nicht wahrnimmt, aber vor allem auch nicht so stark sein, dass es Stress empfindet. Es gilt also, das Pferd mit ungewohnten Objekten oder unerwarteten Berührungen zu konfrontieren, es aber gleichzeitig nicht zu überfordern."

Auf jeder der im Laufe der Trainingsprozesses bearbeiteten Intensitätsstufen müsse so lange verweilt werden, bis das Pferd erkennbar positiv auf den Reiz reagiert und auch wohlwollende Entspannungstechniken wie Kraulen oder TTouches annimmt. "Erst dann kann die Intensität des Außenreizes gesteigert und die Desensibilisierung fortgesetzt werden", so Wendt.

Keine Eile

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Nerven wie Drahtseile: Fortgeschrittene dürfen ihr Pferd auch schon mal unter eine Plane stellen oder sie sogar damit einwickeln. Ein richtig vorbereitetes und gut trainiertes Pferd bringt fast nichts mehr aus der Ruhe! © www.slawik.com

Schreitet man zu schnell voran, besteht die Gefahr, dass man ungewollt von der Methode der sukzessiven Gewöhnung in den Mechanismus der sogenannten Reizüberflutung abrutscht. Dazu Marlitt Wendet: "Bei der Reizüberflutung wird das Pferd einem Schreckreiz so lange ausgesetzt, bis es keine Abwehrversuche mehr zeigt. Das Tier wird hierbei in einem erheblichen Maße Stress und Ängsten ausgesetzt. Ein ohnehin schon reaktives Pferd kann extrem reagieren und versuchen, um jeden Preis das Trainingsareal zu verlassen. Diese panischen Fluchtversuche können für das Tier selbst und für sämtliche Beteiligten lebensgefährlich sein. Außerdem können Ängste nach einer nicht vollständig abgeschlossenen Reizüberflutung oder Fehlern in der Durchführung noch stärker als bisher empfunden werden." Daher gilt: Beim Pferdetraining lieber im Bereich der erhöhten Aufmerksamkeit bleiben und diese durch Belohnungen und Entspannungstechniken in eine Wohlfühlzone verwandeln, als durch Unachtsamkeit in einen nicht kontrollierbaren Prozess der Reizüberflutung zu verfallen.

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