Ausbildung

Zungenfehler: Unart oder Hilfeschrei?

Ein Artikel von Dr. Britta Schöffmann | 11.01.2017 - 09:44
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Ein Großteil aller Zungenfehler beim Pferd sind hausgemacht, die meisten darunter vom Reiter. © www.slawik.com

Der braune Wallach hatte mit seiner Reiterin schon mehrfach L-Dressuren gewonnen und war auf dem Weg zu M-Niveau. Die fliegenden Wechsel klappten schon ganz gut, und auch in Traversalen und im Schulterherein trabte er locker und geschmeidig in schöner Selbsthaltung. Bis zu dem Tag, an dem er erstmals in einer Wendung die Zunge zeigte. Erst ein bisschen, dann immer häufiger. Reiterin und Ausbilderin taten, was man in solchen Fällen zunächst einmal tun soll: sie überprüften Gebiss und Trensenverschnallung. Alles in Ordnung, nirgendwo klemmte etwas. Das Zungenproblem blieb. Was folgte, war das ganze Programm auf der Suche nach der Ursache: Zahnarzt kommen und Zähne machen lassen – ein kleines Häkchen, vielleicht war das der Bösewicht. Das Zungenproblem blieb. Als nächstes Sattler und Osteopath. Das Zungenproblem blieb. Vielleicht mal ein anderes Gebiss probieren? Oder ganz ohne Nasenriemen reiten? Das Zungenproblem blieb. Inzwischen war die Reiterin frustriert und unsicher geworden: „Vielleicht bin ich schuld. Vermutlich bin ich mit meiner Hand zu hart.“ Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Denn immerhin waren Pferd und Reiterin schon seit vier Jahren ein gut aufeinander eingespieltes Team. Wieso also jetzt auf einmal so plötzlich und intensiv die Sache mit der Zunge? Eine Untersuchung in einer Pferdeklinik brachte Klarheit: Der Wallach litt einseitig an einer Kiefergelenksentzündung, die er sich wahrscheinlich bei Futterstreitigkeiten durch die Gitterstäbe mit seinem Boxennachbarn zugezogen hatte. „Dass er da in dem Moment, in dem er in der Wendung abkauen sollte, aus Schmerz lieber die Zunge zeigt, ist verständlich“, so der Tierarzt. Gelenkbehandlung, ein paar Wochen Reit- bzw. Gebisspause und endlich war das Problem in diesem Fall – behoben.

Wichtig: Ursachenforschung

So aufwendig der beschriebene Fall bei der Ursachenforschung auch war, die Lösung war relativ einfach, was aber in den meisten Fällen nicht so ist. Im Gegenteil. Denn ein Großteil aller Zungenfehler beim Pferd ist tatsächlich hausgemacht, die meisten darunter vom Reiter. Dabei gilt nicht nur das seitliche Herausstrecken der Zunge als Fehler, auch mehrfaches oder dauerhaftes Zeigen der Zunge zwischen den Schneidezähnen, Hochziehen und/oder Spielen mit der Zunge (bei meist leicht geöffnetem Maul) oder gar das Übers- Gebiss-Legen der Zunge sind ebenfalls unerwünscht, da sie Symptome für tiefer liegende Probleme sind. Mit derartigen Aktionen zeigt ein Pferd, dass etwas nicht stimmt. Das kann Spannung und Nervosität, das kann aber auch Unwohlsein oder sogar Schmerz sein, der nicht unbedingt nur im Maul auftritt. Statt also dem oft gehörten Ratschlag „Knall dem mal den Nasenriemen zu, dann lässt der das auch“ zu folgen, ist zunächst Ursachenforschung dringend angesagt. Und zwar umgehend! Schnell entwickelt sich ansonsten nämlich aus einem anfangs noch kleinen Hinweis des Pferdes eine echte Unart, die dann nur schwer oder auch gar nicht wieder in den Griff zu bekommen ist. Wer sich einmal fürs enger Schnallen entschieden hat, wird schnell in einer Spirale von enger und enger landen und seinen Wunsch nach feinem, pferdegerechten Reiten begraben können. Sollte also das Pferd tatsächlich mal mit einer ungewünschten Zungenaktivität aufwarten, sollte der Reiter zuerst die Basics überprüfen:


1. Ausrüstung überprüfen

  • Passt das Gebiss? Ist es an den Rändern ausgeschlagen und scharf? Liegt es (noch) richtig oder hat vielleicht das Lederzeug des Zaumzeuges mit der Zeit nachgegeben, und das Gebiss sitzt zu tief?
     
  • Passt das Kopfstück? Klemmt es vielleicht im Genick? Ist der Nasenriemen richtig, das heißt nicht zu eng (Zwei-Finger-Regel!) verschnallt? Ist der Stirnriemen zu kurz und zieht das Genickstück Richtung Ohrspeicheldrüse?
     
  • Ist das Gebiss für dieses Pferd überhaupt richtig? Pferde mit schmalem Maul, kurzer Maulspalte, dicker Zunge oder flacher Maulhöhle fühlen sich oft mit dünneren Gebissen wohler als mit vermeintlich weicheren dicken. Das Gleiche gilt für die Entscheidung einfach oder doppelt gebrochenes Gebiss, auch hier gibt es in der Akzeptanz und im „Wohlfühlfaktor“ deutliche individuelle Unterschiede. Aber Achtung: Das Ausprobieren von allen möglichen neumodischen Gebissen mag vorübergehend etwas bringen, dauerhaft lösen wird es die wenigsten Zungenfehler!
     
  • Passt der Sattel? Auch wenn der Sattel auf den ersten Blick wenig mit dem Pferdemaul – und damit mit der Zunge – zu tun haben scheint: ein nicht passender, drückender oder gar schmerzender Sattel kann zu Rückenverspannungen führen, die wiederum Auswirkungen auf die Durchlässigkeit und damit die Akzeptanz der Zügelhilfen und des Gebisses haben können.

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Ein unpassendes Gebiss verursacht beim Pferd Unwohlsein bis hin zu Schmerzen und kann Auslöser für einen dauerhaften Zungenfehler sein. © www.slawik.com

2. Zähne überprüfen lassen
Etwa einmal im Jahr sollte jeder Reiter die Zähne seines Pferdes überprüfen und gegebenenfalls behandeln lassen. Das oft gehörte Argument „In der freien Natur macht das ja auch niemand“ gilt nicht, denn dort haben Pferde ein ganz anderes und für ihre Zähne gesünderes Nahrungsangebot. Der Abrieb geschieht dadurch viel gleichmäßiger – Bio-Zahnpflege sozusagen, die dem modernen Hauspferd fehlt. Scharfe Zahnkanten und/oder damit verbundene kleine Verletzungen des Zahnfleisches können bei sensiblen Pferden schon ausreichen, ihre Unpässlichkeit durch Herausstrecken oder Spielen mit der Zunge zu zeigen.

3. Physiotherapeuten/Ostepathen
Muskelverspannungen, Gelenkblockaden u. v. a. m. – all das kann ein Pferd in der Arbeit so in seinem Wohlbefinden stören, dass es unwillig reagiert bzw. seinen Reiter durch Zungenfehler darauf aufmerksam macht. Wenn man Glück hat, findet der Therapeut den Knackpunkt und kann das Problem lösen. Dies oft aber nur vorübergehend, denn auch für Verspannungen oder Blockaden gilt: der häufigste Verursacher ist der Reiter! Mit ein bisschen Renken ist es deshalb meist nicht getan. Wird die reiterliche Arbeit nicht umgestellt, wird sich das Problem mit all seinen Folgen wieder einstellen.

4. Kritische Selbstreflexion
Damit sind wir wieder beim Reiter. Eine harte, unnachgiebige, ungeschickte oder grobe Zügelführung, mentale und körperliche Überforderung (vor allem bei jungen Pferden) oder auch die Unfähigkeit, sein Pferd von hinten nach vorn über einen schwingenden Rücken in eine leichte Anlehnung zu arbeiten, sind Hauptursachen von Zungenfehlern!

Gerade junge Pferde, die erst einmal Vertrauen zu dem noch unbekannten Gebiss gewinnen müssen, reagieren häufig, indem sie ihre empfindliche Zunge, auf der das Gebiss ja liegt, aus der „Gefahrenzone“ herausbewegen wollen. Jeder Versuch, dies mit mehr Zügeleinwirkung oder Zuschnüren des Nasen- bzw. Sperrriemens beheben zu wollen, wäre absolut falsch. Hier kann nur eine ganz weiche und geschickte Hand in Verbindung mit korrektem „an die Hand Herantreiben“ dem Pferd die notwendige Sicherheit und damit das Vertrauen in Gebiss und Reiterhand geben.

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Den Nasen- bzw. Sperrriemen immer enger zu schnallen, behebt ein Zungenproblem nicht. © Farmer - fotolia.com

Auch beim Longieren, hier besonders beim Anlongieren, werden bezüglich Pferdemaul (und Zunge) schon viele vermeidbare Fehler gemacht. Wer seinem Youngster die Longe in den Gebissring einhängt und das Gebiss dann im Trab und vor allem Galopp seitlich aus dem Maul herauszieht, darf sich nicht wundern, wenn auch hier das Pferd lernt, dem Gebiss zu misstrauen und seine Zunge in Sicherheit zu bringen. Aus diesem Grund sollte gerade das Anlongieren mit Trense und Kappzaum (dort wird dann die Longe eingehängt) geschehen. Vorbeugen ist besser als heilen bzw. korrigieren.

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Bei richtiger Verschnallung passen zwei Finger zwischen Nasenriemen und Pferdekopf. © Sladky

Auch beim Longieren, hier besonders beim Anlongieren, werden bezüglich Pferdemaul (und Zunge) schon viele vermeidbare Fehler gemacht. Wer seinem Youngster die Longe in den Gebissring einhängt und das Gebiss dann im Trab und vor allem Galopp seitlich aus dem Maul herauszieht, darf sich nicht wundern, wenn auch hier das Pferd lernt, dem Gebiss zu misstrauen und seine Zunge in Sicherheit zu bringen. Aus diesem Grund sollte gerade das Anlongieren mit Trense und Kappzaum (dort wird dann die Longe eingehängt) geschehen. Vorbeugen ist besser als heilen bzw. korrigieren.

Keine Frage des Alters

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Nicht immer muss eine grobe Hand Ursache dafür sein, dass ein Pferd beim Reiten die Zunge zeigt. © www.slawik.com

Allerdings sind nicht nur junge Pferde gefährdet, Zungenfehler zu entwickeln. Fehlerhafte reiterliche Einwirkung und falsche Arbeit an Longe oder unter dem Sattel können auch ein älteres Pferd dazu bringen, Zungenfehler zu zeigen. Meist lassen diese Pferde die Zunge dauerhaft seitlich heraushängen, sobald sie geritten werden. Je nach Ausprägung dieser Problematik ist es dann letztlich sogar egal, ob sie mit Gebiss oder gebisslos geritten werden. Sobald sich der Hilfeschrei zum Problem und das Problem zur Angewohnheit bis hin zur Verhaltensstörung entwickelt hat, wird es schwer bis unmöglich, einen derartigen Zungenfehler wieder abzustellen.

Für Zungenfehler besonders anfällig sind Pferde, die grob und damit falsch auf Kandare geritten werden. Ein eng zugezogener Nasenriemen, verbunden mit einer sehr kurz eingehängten Kinnkette und einer durchfallenden Kandare (also fast waagerecht stehenden Kandarenbäumen) kann sogar auf tierquälerische Weise die Durchblutung und damit die Sauerstoffversorgung der Pferdezunge stören oder sogar unterbinden. Die Folge: eine blau angelaufene Zunge, die, weil zunehmend gefühllos, dann oft auch noch seitlich aus dem Maul heraushängt.

Wem so etwas passiert, der kann sich mit „falsches Gebiss“ oder „dumme Angewohnheit des Pferdes“ nicht mehr herausreden! Zungenfehler sind also letztlich eigentlich (doch) immer ein Hinweis auf ein Fehlverhalten des Reiters, sei es eine fehlerhafte Reitweise oder einfach nur Ignoranz gegenüber dem Hilfeschrei des Pferdes. Aus diesem Grund werden Zungenfehler von Richtern in Dressurprüfungen auch besonders streng geahndet. Zeigt ein Pferd hin und wieder seine Zunge vorn minimal zwischen den Schneidezähnen, gilt dies als weniger gravierender Fehler, fließt aber gleichwohl in die Bewertung mit ein. Zeigt sich die Zunge aber weit und mehrfach nach unten oder seitlich, werden pro Lektion sogar mindestens ein bis zwei, international sogar drei Punkte abgezogen. Das gleiche gilt für deutliches Hochziehen oder Übers-Gebiss-Geraten der Zunge. National wie international soll dabei die Note für die entsprechende Lektion auf keinen Fall höher als 5 bzw. 4 sein.

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Pferde, die falsch auf Kandare geritten werden, neigen schnell zu Zungenfehlern. © www.slawik.com

Komplexes Thema

Für Fachtierarzt Dr. med. vet. Jan Carlos Merkt von der deutschen Pferdeklinik Meerbusch sind Zungenfehler beim Pferd ein sehr komplexes Thema. „Neben falscher Reiterei und falscher Ausrüstung gibt es aber tatsächlich auch diverse medizinische Befunde, die zu Zungenproblemen führen können. Dazu gehören kleinere oder größere Verletzung des Zahnfleisches, Ekzeme an den Unterkieferästen, Verhärtungen an oder in der Zunge durch alte Verletzungen, Zahnwurzelentzündungen, Probleme mit dem Zungenbein wie Blockaden, Entzündungen oder Verletzungen, Allergien gegen das Gebiss, Entzündungen des Rachenraums oder des Schlundes bis hin zu Kiefergelenksentzündungen und Kiefergelenksarthrosen. Selbst Rückenbefunde wie Kissing Spines oder Entzündungen an den kleinen Wirbelkörpern können Ursache für Zungenfehler sein. Wenn alles andere ausgeschlossen ist und sich auch durch entsprechend fachlich korrektes Reiten keine Besserung einstellt, sollte deshalb auch an derartige Erkrankungen gedacht werden und eine entsprechende medizinische Untersuchung zur genauen Diagnostik eingeleitet werden.“

Zurück an die Basis

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Erste Hilfe: Die Basis der Ausbildungsskalabeim Reiten wieder in den Vordergrund stellen! © www.slawik.com

Was aber tun, wenn sich ein Zungenfehler anbahnt? Auf jeden Fall ernst nehmen und sofort Ursachenforschung betreiben – am besten auch zurück zur Basis der Ausbildungsskala: Takt, Losgelassenheit und Anlehnung müssen, notfalls für Wochen und Monate, wieder ganz bewusst in den Vordergrund gestellt und dabei die eigene reiterliche Einwirkung kritisch hinterfragt und verbessert werden.

Hat sich das Problem eher schleichend entwickelt, ist es nämlich tatsächlich meist die Folge falschen Reitens. Wobei falsch nicht nur hart und grob ist, sondern auch bedeuten kann, dass das Pferd auf der Vorhand und/oder mangelhaft gymnastizierend geritten wird. Ist das Zungenproblem eher plötzlich aufgetreten, kann dies – wenn auch nicht immer – auf eine medizinische Ursache hinweisen. Und davon gibt’s außer der eingangs erwähnten Gelenksentzündung noch so manch andere.