Ausbildung

Freispringen: So gelingt der Einstieg

Ein Artikel von Regina Käsmayr | 24.01.2020 - 12:18
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Freispringen bietet nicht nur eine hervorragende Abwechslung im  Trainingsalltag. Es schult auch Geschicklichkeit und Geschmeidigkeit des Pferdes und gibt ihm Selbstvertrauen und Mut.

Frisch vom Schiff kam der Criollo-Wallach Sailor in die Hände von Susanne Hübner. Die hatte ihn zwar als „angeritten“ gekauft, stieg aber in den ersten Tagen gleich mehrmals unfreiwillig ab. Eines der Mittel, die die 25-Jährige anwandte, um das Ausbildungsdefizit des Sechsjährigen wettzumachen, war Freispringen. „In unserem Stall gab es eine Gruppe, die sich jeden Sonntag zum Freispringen traf“, erzählt Hübner. „Auf mich wirkte die Prozedur sehr eingespielt, deshalb schloss ich mich mit Sailor an.“ Die „Prozedur“ sah folgendermaßen aus: Je zwei Pferde kamen miteinander in die Halle zum „Aufwärmen“. Beide wurden von ihren mit Longierpeitschen bewaffneten Besitzern durch die Halle gehetzt. Anschließend sprang zuerst das eine, dann das andere Pferd ein paar Mal hintereinander durch die aufgebaute Springgasse.

Wildpferd Sailor, das bis vor wenigen Wochen noch als Ranchpferd auf einer argentinischen Farm gedient hatte, ließ sich von der furchteinflößenden Peitsche bis vor das erste Cavaletto treiben und stoppte davor abrupt. Auf nachhaltiges Treiben hin sprang Sailor aus dem Stand über das unbekannte Hindernis und rammte sechs Meter weiter alle Viere vor einer blauen Tonne in den Sand. Der Peitschenschlag verlieh ihm auch in diesem Fall Flügel. Erst beim dritten Hindernis, einem kleinen Steilsprung, sorgte er für eine Pause, indem er den Sprung in seine Einzelteile zerlegte. „Nach ein paar Wochen kam Sailor zwar besser über die Hindernisse, aber er stoppte in jeder Ecke und wollte sich nicht mehr in die Gasse treiben lassen“, erinnert sich Hübner. „Irgendwann hab ich das Freispringen einfach bleiben lassen, weil ich keinen Sinn darin sah.“ Und den hatte die beschriebene „Prozedur“ tatsächlich nicht.

Rudolf Krippl, Ausbildungsleiter im Pferdezentrum Stadl-Paura, sieht im Freispringen einen „hohen gymnastischen Effekt“ – vorausgesetzt, man macht es richtig. Was im Fall von Sailor nicht der Fall war. „Unsachgemäßes Freispringen kann sehr viel kaputtmachen. Wird vom Pferd zu viel erwartet, verspannt es sich und kann sich verletzen. Scheuchen hat absolut keinen Lerneffekt. Häufig stimmen auch die Abstände zwischen den Sprüngen nicht, die Hindernisse werden zu schnell höher gestellt oder unbefestigte Bodenstangen eingesetzt, auf die das Pferd dann tritt und sich Sehnen- oder Knochenschäden zuziehen kann.“

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Spiegel sollte man sicherheitshalber verhängen, damit die Pferde nicht in Versuchung geraten, hineinzuspringen.

Sicherheit geht vor

Unsachgemäßes Freispringen kann Verletzungen bei Mensch und Tier nach sich ziehen. Folgende Sicherheitsvorkehrungen sollten deshalb beachtet werden:

➜ Helfer sollten Handschuhe und Sicherheitsschuhe tragen.
➜ Pferde tragen einen Beinschutz, der sich nicht verheddern kann, keine Bandagen.
➜ In der Reithalle müssen alle Spiegel zugehängt werden (erhöhte Unfallgefahr).
➜ Beim Aufbau an der Bande nur geschlossene Bandenständer verwenden.
➜ An Hochweitsprüngen immer Sicherheitsauflagen verwenden.
➜ Keine beweglichen Stangen zwischen die Sprünge legen. Stattdessen Cavaletti, schmale Planken oder Dualaktivierungsschläuche verwenden.
➜ Pferde nur korrekt aufgewärmt in die Springgasse führen.
➜ Eine gut sichtbare Eingrenzung der Sprunggasse kanalisiert den Laufweg des Pferdes und trägt entscheidend zur Vorbeugung von Unfällen bei.

Gymnastizierung für jedes Pferd

Korrektes Freispringen sei jedoch eine wunderbare Möglichkeit, junge Pferde ohne Reitergewicht und -hilfen mit dem Springen vertraut zu machen sowie ältere Pferde zu gymnastizieren. Jürgen Strauß, Turnierrichter und Ausbildungsleiter im Haupt- und Landgestüt Schwaiganger, fasst die Vorteile zusammen: „Freispringen beeinflusst bzw. fördert bei fachgerechter Anwendung die Koordination der Bewegungen, Körperbeherrschung, Körperbalance, Reaktionsfähigkeit, Schnellkraft, Sprungkraft sowie das Taxiervermögen und schult das Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit. Freispringen hat auch Auswirkungen auf die positive Entwicklung der Muskulatur, auf die körperliche Fitness und trägt somit auch zur langfristigen Gesunderhaltung des Pferdes bei. Durch individuell aufgebaute Gymnastikreihen kann der gesamte Sprungablauf, Bascule, Bewegungsfluss, Rückentätigkeit, die Beintechnik sowie der Galopprhythmus des Pferdes verbessert werden. Freispringen hat als vorrangiges Ausbildungsziel, den gesamten Pferdekörper zu gymnastizieren.“

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Echte Springtalente sind in allen Rassen zu finden. © Maximilian Schreiner

Freispringen ist damit ein wertvoller Mosaikstein in der Ausbildung von Pferden. Das gilt für Dressur-, Western- und Gangpferde ebenso wie für jene Vierbeiner, die normalerweise nur im Gelände geritten werden. Gerade wenn der Reiter selbst nicht springen kann oder will, ist Freispringen ein wunderbarer Ausgleich bzw. ein gutes ergänzendes Fitnesstraining zum sonstigen Alltag im Gelände oder Dressurviereck. Durch die vertrauensbildende Wirkung, die gut gemachtes Freispringen hat, können Korrekturpferde zudem das verloren gegangene Selbstvertrauen am Sprung ohne die Einwirkung durch den Reiter wieder aufbauen.


Wichtig: Richtiges Aufwärmen

Doch was genau hat Susanne Hübners Gruppe bei Sailor nun falsch gemacht? „Das geht schon beim Aufwärmen los“, sagt Krippl. „Das Pferd muss vor dem Springen 20 Minuten lang gelöst werden. Wenn man es in der Halle hin und her jagt, löst es sich aber nicht, sondern verspannt sich unter Umständen sogar.“ Stattdessen empfiehlt der erfahrene Ausbilder, das Pferd vorher gut abzulongieren oder zu reiten.

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Longieren über Stangen ist eine gute Vorbereitung für anschließendes Freispringen. ©www.Slawik.com

Der wichtigste Ausbildungsgrundsatz ist laut Jürgen Strauß auch hier: „Vom Leichten zum Schweren.“ Bereits beim Aufbau der Sprunggasse gibt es vieles zu beachten: Der Laufweg muss seitlich eine hohe, für das Pferd gut sichtbare Begrenzung haben. An die Sprunggasse selbst muss das Tier ruhig und langsam herangeführt werden, am besten von einem vertrauten Menschen. Sollte an diesem Tag rechter Hand gesprungen werden, so muss der Helfer auch von rechts führen. Sonst bestünde im Moment des Loslassens die Gefahr, zwischen Pferd und Bande zu geraten. „Wir schulen alle unsere Pferde so, dass man sie jederzeit auch von der rechten Seite aus führen kann“, sagt Krippl.

Der Laufweg des Pferdes sollte vorgegeben werden, damit in der Lösungsphase die ganze Bahn ohne Sprung genutzt werden kann. Beim unerfahrenen Pferd beginnt man mit einem Einzelsprung und wählt die Ein- und Auslaufstrecke etwas länger“, erklärt Jürgen Strauß. Dann können nach und nach Cavaletti, rhythmusgebende Sprünge, In-Out-Aufgaben und zuletzt mehrere einladende niedrige Sprünge eingebaut werden. Gut geeignet sind kleine Kreuzsprünge, um das Pferd gleich von Anfang an zum mittigen Überwinden des Hindernisses anzuregen. „Mit mehr Routine kann man die Einlaufstrecke verkürzen und variable Springreihen aus unterschiedlichem Hindernismaterial als Schulungsmaßnahmen anwenden“, so Strauß.

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Hier gibt eine stabile seitliche Begrenzung den Laufweg über die Hindernisse optimal vor. ©www.Slawik.com

Leckerchen bringen Ruhe ins Pferd

Auf keinen Fall sollte der Vierbeiner durch die Gasse gehetzt werden. Permanentes Treiben zwischen den Sprüngen lenkt ab und verunsichert. Das Pferd sollte idealerweise konzentriert an den Sprung kommen und selbstständig abspringen. Also arbeiten Profis mit der ältesten und wirkungsvollsten Überredungskunst aller Zeiten: Leckerlis. Hat das Pferd seine Springreihe absolviert, wird es von einem Helfer abgefangen und mit Futter belohnt. Das hat auch den Vorteil, dass kaum ein Kandidat am Ende der Gasse durchbrennen will. Alle halten brav an und wenden sich der Person mit der Belohnung zu.

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Ruhe und viel Lob geben dem Pferd Sicherheit.

Andere Variante: Derjenige, der das Pferd in die Gasse hineingeführt hat, ist auch der Herr der Leckerlis. Dann trabt das Pferd nach vollendeter Springübung zu ihm zurück, holt sich die Belohnung ab und lässt sich ein weiteres Mal in die Gasse führen. So arbeitet Rudolf Krippl im Pferdezentrum Stadl-Paura mit seinen jungen Hengsten und Stuten, die auf die Leistungsprüfungen vorbereitet werden.

Egal, für welche Variante man sich entscheidet – einen weiteren Helfer benötigt man jedenfalls. Und der sollte möglichst gut mit dem Pferdeführer und dem Pferd harmonieren. „Diese Person steht außerhalb der Gasse auf Höhe des Absprungpunkts und treibt mit der Gerte nach, falls sie ein Zögern beim Pferd bemerkt. Am besten wählt man dafür einen erfahrenen Reiter, der das Verhalten des Pferdes gut einschätzen kann und weiß, ob und wann er Druck ausüben muss. Er sollte auch die Körpersprache einzusetzen wissen und wissen, von wo aus und aus welcher Distanz er arbeiten muss.“


Abstände richtig wählen

Ein weiterer Fehler, den die Ausbilder von Sailor gemacht haben, bestand darin, die Abstände zwischen den einzelnen Hindernissen nicht individuell an das jeweilige Pferd anzupassen. Stimmen nämlich die Abstände nicht mit der Länge des Galoppsprungs überein, so kommt das Pferd aus dem Rhythmus und wird eher verweigern. Krippl: „So etwas nimmt dem Pferd die Freude am Freispringen. Natürlich variieren die Abstände in jeder Gangart von Pferd zu Pferd. Man kann einem Haflinger nicht dieselbe Gasse anbieten wie einem Warmblutpferd.“

Abstände zwischen den Sprüngen

➜ Trabstangen: 2,2 bis 2,5 m
➜ In-Out: 3 bis 4 m
➜ ein Galoppsprung: 6,5 bis 7,5 m
➜ zwei Galoppsprünge: 10 bis 11 m

Die angegebenen Abstände sind keine festen Maße, sondern richten sich nach Größe und Raumgri­ff des Pferdes, nach der Aufgabenstellung, der Art der Hindernisse und dem Schulungsziel.

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Dualaktivierungsschläuche animieren das Pferd, sich über dem Sprung runder zu machen. © Maximilian Schreiner

Wer Probleme mit dem Finden der passenden Abstände hat, kann einen erfahrenen Ausbilder bitten, die Galoppsprünge des Pferdes in der Gasse vorab ohne Hindernisse anzuschauen und die Abstände zu schätzen. Auch was die Höhe und die Gestaltung der Hindernisse angeht, dürfe man nicht in Versuchung kommen, damit brillieren zu wollen, findet Krippl. Daher haben blaue Tonnen in einer Anfängerreihe ebenso wenig zu suchen wie tiefe Oxer und meterhohe Steilsprünge. „Die Erhöhung der Hindernisse ist sekundär“, so Krippl. „In der Ausbildung des jungen Pferdes geht es um Losgelassenheit und Gymnastizierung.“

Wie auch immer das individuelle Freispring-Training für ein bestimmtes Pferd aussieht – nach fünf bis sechs Runden muss Schluss sein. Junge Pferde werden sonst in ihrer Reaktionsfähigkeit überfordert, ermüden körperlich und geistig und springen von Mal zu Mal schlechter. Deshalb gilt auch für das Timing der Grundsatz: Weniger ist mehr. Wichtige Ausbildungsdevise: „Die Pferde müssen die zuletzt gestellte Aufgabe mit einem positiven Gefühl beenden“, empfiehlt Jürgen Strauß.

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© Cadmos | AV Buch

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Praxishandbuch Freispringen
Gymnastik, Training, Abwechslung

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80 Seiten, 16,90 Euro
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