Ausbildung

Mythos oder Wahrheit: Wer am langen Zügel ausreiten geht, schadet seinem Pferd

Ein Artikel von Pamela Sladky | 11.02.2020 - 12:55
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Wer gerne am langen Zügel ausreiten geht, kann das ohne schlechtes Gewissen tun. ©www.Slawik.com

In der Natur widmet sich das Pferd 16 Stunden der Nahrungsaufnahme, die restliche Tageszeit verbringt es mehrheitlich mit Ruhen. Eines ist beiden Szenarien gemein: das Pferd hat dabei seinen Hals lang und entspannt, die Kopfhaltung ist meist tief. Eine Körperhaltung, die in der Reitersprache als „auf der Vorhand“ bezeichnet werden würde, ist für das Pferd demnach das Normalste der Welt. Entsprechend ist sein Körper perfekt darauf eingestellt, wie Pferdefachtierarzt Maximilian Welter erklärt: „Zum einen sind die Vorderhufe breiter als die Hinterhufe. Sie sind also gewöhnlich dafür konstruiert, mehr Gewicht zu tragen. Zum anderen gibt es am Vorderbein zwei Unterstützungsbänder für die Beugesehnen (eines für die oberflächliche, eines für die tiefe Beugesehne). Am Hinterbein gibt es nur ein  Unterstützungsband, und zwar für die tiefe Beugesehne.“

Damit es trotz dieser anatomischen Gegebenheiten nicht zur Überlastung der Vorderbeine kommt, hat die Natur das Nacken-Rückenband-System ausgeklügelt. Die kräftige Bandstruktur hält, sobald sie unter Spannung kommt, die Brustwirbelsäule ganz ohne Muskelkraft angehoben. Das Widerlager bildet die Hinterhand. Aktiv wird das System, sobald das Pferd zufrieden den Hals fallen lässt. Praktisch: Das Prinzip funktioniert auch dann, wenn ein Reiter auf dem Rücken des Pferdes sitzt.

Fürs Ausreiten am langen Zügel heißt das: „Geht man mit einem entspannten Pferd, das seine Haltung selbst wählen kann, geradeaus ins Gelände, kann eigentlich wenig passieren – es sei denn, der Sattel passt nicht, der Reiter ist zu schwer, es wird jeweils zu lange geritten und es gibt keine Pausen“, meint Pferdeosteopathin und Reitausbilderin Claudia Weingand und ergänzt: „Natürlich ist es trotzdem sinnvoll, gezielt zu longieren oder gebogene Linien auf dem Platz zu reiten, um die natürliche Schiefe etwas auszugleichen.“ Oft würden die Probleme aber erst dann beginnen, wenn Geländereitern eingeredet wird, das Pferd müsse Seitengänge oder gar Lektionen wie die Piaffe lernen, um gesund zu bleiben. „Gerade auf dem Weg zur Versammlung gibt es viele Stolperfallen – und das Pferd muss die Fehler des Reiters oder Trainers oft bitter bezahlen.“

Wer sein Pferd vorwiegend ins Gelände reiten möchte, kann das so tun, dass er und sein Pferd glücklich und gesund bleiben. Nötig sind dafür ein zügelunabhängiger Sitz, ein passender Sattel, Pferdeverstand, etwas Abwechslung im Training und ein grundsätzlich entspanntes und gesundes Pferd. „Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn er sein Pferd nicht piaffieren, Schulterherein reiten oder mit ihm fliegende Wechsel erarbeiten kann. Im Gegenteil: Das kann man tun, aber bitte nur, wenn man weiß, wie“, so Weingand.

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