Ausbildung

Dehnungshaltung, Unterhals, Untertreten: Drei Ausbildungsmythen entlarvt

Ein Artikel von Pamela Sladky | 11.03.2022 - 14:44
oewb_belle51816.jpg

Den Durchblick zu behalten, ist oft gar nicht so einfach © www.Slawik.com

Trotz der Fülle an Informationen, die heute überall und jederzeit verfügbar ist, sind manche Mythen einfach nicht totzukriegen. Vielleicht ist es auch gerade die Flut an Informationen, die es so schwer macht, wahr von unwahr zu unterscheiden und richtig von falsch. Und halten sich nach wie vor zahlreiche Behauptungen rund um die Pferdeausbildung, die nicht oder nur teilweise stimmen. Leidtragende sind vor allem die Pferde, die die Unwissenheit ihrer Reiter ausbaden müssen. Trainerin und Pferdeosteopathin Barbara Welter-Böller, Pferdefachtierarzt Maximilian Welter und Pferdetherapeutin Claudia Weingand haben populäre Behauptungen rund um die Pferdeausbildung auf den Prüfstand gestellt und anhand aktueller anatomischer, physiologischer und verhaltensbiologischer Erkenntnisse bewertet.


1. Die Dehnungshaltung verschleißt die Vorhand.

Das Reiten des Pferdes in Dehnungshaltung wird schon seit vielen Jahrzehnten immer wieder kontrovers diskutiert. Die einen sagen, es geht nicht ohne, Kritiker:innen des Reitens mit tiefem Pferdehals hingegen sind überzeugt, dass sie mehr schadet als nützt. Aber was stimmt denn nun? „Fakt ist, dass jedes Pferd schon von Natur aus mehr Last auf der Vorhand trägt als auf der Hinter- hand. Das ist völlig physiologisch und liegt am langen Hals, der sich, wenn das Pferd die Wahl hat, 16 Stunden am Tag in Fresshaltung befindet“, so Weingand. Dass das Pferd bestens dafür gerüstet ist, die Vorhand vermehrt zu belasten, zeigen zwei anatomische Fakten, wie Maximilian Welter ausführt: „Zum einen sind die Vorderhufe breiter als die Hinterhufe. Sie sind also gewöhnlich dafür konstruiert, mehr Gewicht zu tragen. Zum anderen gibt es am Vorderbein zwei Unterstützungsbänder für die Beugesehnen (eines für die oberflächliche, eines für die tiefe Beugesehne). Am Hinterbein gibt es nur ein Unterstützungsband, und zwar für die tiefe Beugesehne.“

So weit, so gut also. Damit es trotz dieser anatomischen Gegebenheiten nicht zur Überlastung der Vorderbeine kommt, hat die Natur das Nacken-Rückenband-System ausgeklügelt. Die kräfige Bandstruktur zieht vom Hinterhauptsbein über die Wirbelsäule bis zum Ende des Kreuzbeins. „Senkt das Pferd den Hals, kommt das Nacken-Rückenband unter Spannung. Es hält die Brustwirbelsäule (hinter dem Widerrist) passiv, also ohne Muskelkraft, oben. Die im Brustkorb liegenden Organe haben so genug Raum und können physiologisch arbeiten. Die Halsanteile von Trapez- und Rautenmuskel ziehen in Dehnungshaltung das Schulterblatt nach vorn und stabilisieren das in leichter Beugestellung stehende Buggelenk. Durch diese Drehung des Schulterblatts nach vorn kann sich der thorakale Teil des Widerrist besser entfalten und effizienter arbeiten“, so Welter weiter.

15169714714227.jpg

Die Dehnungshaltung ist physiologisch, energiesparend und deshalb  absolut sinnvoll. © www.slawik.com

Das Fazit der drei Expert:innen: Die Dehnungshaltung ist gleich aus mehreren Gründen eine sehr sinnvolle, kraftsparende und vorhandschonende Trainingshaltung. Entsprechend ist es absolut sinnvoll, wie im klassischen deutschen Reitsystem usus, wenig trainierte Jungpferde oder ältere Pferde in der Lösungsphase und in den Pausen zur Erholung der Muskulatur mit langem Hals vorwärts-abwärts zu reiten. „Ältere Pferde sollten sich zumindest zum Warm-up, Cool-down und in Trainingspausen so weit nach unten dehnen dürfen, dass ihr Rücken passiv angehoben wird und sich die Bauchmuskeln etwas erholen können. Wichtig ist allerdings, dass sich das Pferd dabei in Selbsthaltung bewegt und sich nicht auf den Zügel legt oder einrollt“, meint Barbara Welter-Böller. Zudem sollte man auch beim Reiten in Dehnungshaltung immer auf Ermüdungsanzeichen des Pferdes achten, denn auch das eigentlich schonende Vorwärts-abwärts kann man übertreiben.


2. Hebt ein Pferd den Kopf, trainiert es den Unterhals.

Auch diese Behauptung steht ganz oben auf der Liste der populären Irrtümer. „Trägt ein Pferd den Kopf hoch, arbeitet das Pferd mit seiner dorsalen Muskelkette, also mit Muskeln, die oberhalb der Wirbelsäule liegen. Der berüchtigte ,Unterhalsmuskel‘ wird in dieser Haltung aber nicht trainiert. Läuft ein Pferd also in ,Giraffenhaltung‘, liegt das vielmehr an zu viel Aktivität der Oberlinie und zu wenig Aktivität der unterhalb der Wirbelsäule liegenden Muskeln“, weiß Barbara Welter-Böller.

unterhals_2.jpg

Was bei hoch erhobenem Kopf oft fälschlicherweise als dicker Unterhalsmuskel angesehen wird, ist tatsächlich die Form der Halswirbelsäule in den unteren Segmenten, die in dieser Haltung hervortritt.
© www.slawik.com

Und woher kommt es dann, dass der Unterhals hervortritt, wenn ein Pferd mit hoch erhobenem Kopf läuft? „Das liegt daran, dass man bei stark angespannten Oberhalsmuskeln die Form der Halswirbelsäule in den unteren Segmenten hervortreten sieht“, erklärt Barbara Welter-Böller. Was als prominenter Unterhalsmuskel für entsetzte Blicke beim Reiter sorgt, ist in Wahrheit die unphysiologische Krümmung der Halswirbelsäule. Die Formulierungen, dass das Pferd sich „auf den Unterhalsmuskel stützt“ oder sich „mit dem Unterhalsmuskel hilft“, sind anatomisch betrachtet blanker Unfug.

Die Halsform kann übrigens auch rassebedingt sein: Manche Friesen zeigen bereits im Stand eine deutliche umgedrehte S-Form in ihrer Halsung und haben einen prominenten Unterhals. Andere Pferde haben eine verspannte Oberlinie bei einem sehr geraden Hals – die Oberlinie ist kürzer als die Unterlinie. Das kann bei Vollblutpferden oder im alten Typ stehenden Warmblutpferden vorkommen und deutet laut Welter-Böller auf eine zu hohe Faszienspannung hin.
 

3. Soll ein Pferd über den Rücken gehen, muss die Hinterhand fleißig und weit unter den Schwerpunkt fußen.

Mit „fleißigem“ Untertreten meinen Reiter meistens, dass das Pferd in recht hohem Tempo geht. „Ein hohes Tempo bedeutet immer eine Aktivierung der Muskulatur im Rückenbereich. Ist diese angespannt, kann das Becken weniger abkippen.“ Das Untertreten selbst kann nur aus dem Hüftgelenk erfolgen. Wenn ein Bein weit „untertritt“, muss das andere Bein im selben
Augenblick stark schieben, also nach hinten heraustreten. „Soll das Pferd ‚fleißig schieben‘, wird die Lendenwirbelsäule in die Streckung gezogen.“ Das Ergebnis: Das Pferd bekommt ein Hohlkreuz – womit man eigentlich das Gegenteil von „über den Rücken gehen“ erreicht hätte.

araber_puschkin51552.jpg

Ein hohes Tempo beim Vorwärtsreiten macht das Pferd im Rücken hohl. ©www.Slawik.com

Anders sieht die Sache in der Versammlung aus. Sie verhindert, dass die Hinterbeine stark schieben. „Das Pferd geht dann zwar sehr aktiv, aber ohne großen Raumgewinn.“ Für die Praxis heißt das: Starkes Untertreten in hohem Tempo ist eher kontraproduktiv, soll das Pferd seinen Rücken aufwölben. „Ein Pferd in seinem eigenen Takt und Tempo gehen zu lassen, ist die beste Voraussetzung dafür, dass das Pferd ‚über den Rücken‘ läu. Joggt das Pferd beim Warm-up in zwangloser Haltung in seinem eigenen Rhythmus, wird es mental und körperlich bestens auf die weitere Arbeit vorbereitet. In der Arbeitsphase kann man z. B. durch Längsbiegung die Bauchmuskeln ansprechen – und das Pferd wird gern über denRücken gehen“, meint Trainerin Barbara Welter-Böller.

oldenburger_felix9151.jpg

Darf ein Pferd in der Aufwärmphase in ruhigem Tempo gehen, wird es den Rücken leichter öffnen. ©www.Slawik.com

15208529277849.jpg

© Cadmos

Buchtipp

Wenn Sie glauben, dass der Trapezmuskel für die Kuhlen in der Sattellage verantwortlich ist, dass das Pferd in der Biegung die Schulter anhebt, ein schäumendes Maul positiv ist oder dass Cavalettitraining schonend die Bauchmuskeln kräftigt, sind Sie häufigen Ausbildungsirrtümern aufgesessen. Keine Sorge, Sie sind nicht allein. In der Reiterei beruft man sich seit Jahrhunderten auf alte Reitmeister und Wissen aus dem Barock oder der Antike. Das ist völlig in Ordnung – wenn man dieses Wissen mit modernen Erkenntnissen aus Anatomie und Sportphysiologie ergänzen und hinterfragen kann.

Pferdeosteopathin Barbara Welter-Böller, Tierarzt Maximilan Welter und Pferdetherapeutin Claudia Weingand räumen in diesem Buch mit verstaubtem Wissen rund um die Themen Reiten, Longieren und Ausbildung auf.


Die 50 häufigsten Irrtümer in der Pferdeausbildung
... Denn sie wissen nicht, was sie tun
Barbara Welter-Böller, Maximilian Welter und Claudia Weingand
128 Seiten, broschiert
UVP 19,95 Euro
erschienen und erhältlich bei Cadmos
bestellen