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Nachgewiesen: Gamaschen nützen, weil sie stützen. © Eskadron

Gamaschen: Geschützt & gestützt

Ein Artikel von Dr. Med. Vet. Christian J. Kicker | 17.12.2010 - 10:38
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Nachgewiesen: Gamaschen nützen, weil sie stützen. © Eskadron

Gamaschen gehören zur Grundausrüstung jedes Sportpferdes. Fast jedes Pferd besitzt eine oder sogar mehrere Garnituren davon, und meist werden sie auch bei der Arbeit ordnungsgemäß angelegt, um die Pferdebeine vor Verletzungen zu schützen und – um die Sehnen zu unterstützen. Doch tun Gamaschen wirklich, was sie sollen und was man von ihrem Gebrauch erwartet? So ganz genau wusste man das bisher nicht. Ältere Studien, die allerdings mittels einer hydraulischen Druckanlage an toten Pferdebeinen durchgeführt wurden, kamen sogar zu dem Ergebnis, dass Gamaschen wirkungslos seien. Zu einer gänzlich anderen Erkenntnis gelangte die jüngste Studie, die jetzt an der Klinik für Orthopädie der Veterinärmedizinischen Universität Wien abgeschlossen wurde: Gamaschen nützen, weil sie stützen. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand an der Klinik für Orthopädie die Frage, ob in der Behandlung von Sehnenerkrankungen durch eine Bandagierung, respektive durch das Anlegen von Gamaschen das Risiko einer erneuten Überbelastung in der kritischen Phase des Übergangs von der Ruhephase zur Phase mit beginnender Bewegung verringert werden kann, und ob herkömmliche, im Handel erhältliche Gamaschen, die vom Pferdebesitzer im Gegensatz zum Stützverband leicht angelegt werden können, als therapeutisches Hilfsmittel bei rekonvaleszenten, sehnenkranken Pferden sinnvoll zur Unterstützung des Sehnenapparates eingesetzt werden können.

Die Gamaschen

Gamaschen sind aus Neopren hergestellte Stütz- und Schutzhilfen für das Fesselgelenk, die um das Pferdebein gewickelt und mit Klettverschlüssen befestigt werden. In der Studie wurden Gamaschen unterschiedlichen Typs von verschiedenen Firmen verwendet. Die Unterschiede lagen hauptsächlich in der Materialstärke und in der Anzahl und Anordnung der Verschlüsse. Üblicherweise werden Gamaschen bzw. Bandagen bei Sportpferden verwendet, um Verletzungen zu verhindern. Dabei werden zwei Funktionen ins Auge gefasst: Einerseits sollten Gamaschen/Bandagen die Gelenke stabilisieren und somit ein Überstrecken des Fesselgelenkes verhindern, also eine Stützfunktion erfüllen, und andererseits einen Schutz vor äußeren Traumata (Anschlagen, Streifen) bieten. Um eine Stützfunktion von Gamaschen nachweisen zu können, muss ein Unterschied des Fesselgelenkwinkels bei maximalem Durchtreten in der Stützbeinphase im Vergleich der Messung mit Gamasche mit der Messung ohne Stützhilfe zu erkennen sein. An der Klinik für Orthopädie der Veterinärmedizinischen Universität Wien wurden folgende Gamaschen untersucht: Sports Medicine Boots II der Firma Professional Choice (USA), die drei Klettstreifen im Rohrbeinbereich und einen den Fesselkopf umgebenden Klettstreifen aufweisen; Gamaschen der Firma Eskadron (GER) haben zwei Verschlüsse im Rohrbeinbereich sowie einen verstärkten Klettstreifen, der den Fesselkopf im hinteren Bereich umgibt. Von der Firma AETGmbH (GER) wurden für die Untersuchung TSM Reha- Fesselkopfbandagen zur Verfügung gestellt, die durch einen unteren und oberen kurzen Querklettstreifen sowie zwei lange Klettstreifen, die in der Fesselbeuge beginnend innen und außen zirkulär über verschiedene Anheftstellen nach oben gewickelt werden, befestigt wird. Zusätzlich wurde zum Vergleich eine Streifgamasche der Firma Kieffer (GER), die nicht über den Fesselkopf nach unten verschnallt wird, in die Studie aufgenommen.

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Gamaschen im Test: TSM Reha-Fesselkopfbandage, Gamasche von Eskadron (v. l.) mit den applizierten Messpunkten © Christian Kicker

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Gamaschen im Test: Sports Medicine Boots II von Professional Choice und eine Streifgamasche der Firma Kieffer (v. l.) mit den applizierten Messpunkten © Christian Kicker

Die Untersuchung

Von 26 Pferden, die sich im Schritt und Trab am Laufband bewegten, wurden die Winkel der Fesselgelenke gemessen. Bevor die eigentlichen Messungen beginnen konnten, wurden die Messpunkte mit Klebeband am Pferd befestigt. Die einzelnen Gamaschen wurden mit einem definierten Zug von 50 Newton an den beiden Vordergliedmaßen des am Laufband stehenden Pferdes angebracht. Um den Gamaschendruck bei sämtlichen Messungen zu standardisieren, wurde eine Federwaage derart modifiziert, dass alle Klettverschlüsse mit gleichem Zug geschlossen werden konnten. Die Messpunkte wurden von sechs Kameras aufgenommenen, und aus den erhaltenen Daten die Fesselgelenkwinkel berechnet. Laut bestehender Literatur werden für Neoprengamaschen kontroverse Ergebnisse erzielt. Luhmann et al. (2000) konnten bei Tests mit Beschleunigungssensoren keine stoßdämpfende Wirkung von Gamaschen nachweisen. Balch et al. (1997) konnten in der hydraulischen Druckanlage bei verschiedenen Professional Choice Gamaschen eine Kraftabsorption bis zu 26,4 Prozent messen. Ebenfalls mittels einer Druckmaschine konnten Smith et al. (2002) keine signifikanten Unterschiede bei Neoprengamaschen im Vergleich zum rohen Pferdebein erkennen.

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Mess-Vorbereitung: Mit Klebebandwerden die Messpunkte am Vorderbeindes Pferdes befestigt © Christian Kicker

Das Ergebnis

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Die Bandagen werden mit einem definierten Zug von 50 Newton angelegt. © Christian Kicker

In der aktuellen Studie, die im Gegensatz zu den oben erwähnten Literaturbeispielen an lebenden Pferden durchgeführt wurde, konnten im Schritt für die Eskadron- und TSM-Gamaschen hochsignifikante Unterschiede zur Leermessung erhoben werden, im Trab waren die Werte für alle Stützgamaschen hochsignifikant unterschiedlich, für die Streifgamasche signifikant unterschiedlich. Die Unterschiede im Detail: Die Differenz der Winkelgrade zu den Leermessungen war im Schritt im Mittel für die Professional Choice-Gamasche links 0,2 rechts 0,23 Grad; mit der Eskadron- Gamasche ergab sich eine Differenz von 0,81 Grad links, rechts wurden 0,74 Grad Unterschied gemessen; die TSMGamasche bewirkte links eine Differenz von 0,93 und rechts von 0,81 Grad; die Streifgamaschen zeitigte den geringsten Unterschied zum „nackten“ Pferdebein: links wurde eine Differenz von 0,11 und rechts von ebenfalls 0,11 Grad gemessen. Im Trab ergaben sich folgende Unterschiede: Professional Choice links 0,96 Grad, rechts 1,02; Eskadron links 1,04 Grad, rechts 0,94; TSM links 1,49 Grad und rechts 1,43 sowie die Streifgamaschen links 0,58 Grad und rechts 0,54. Je größer der Unterschied zur Messung ohne Gamasche, desto größer ist auch die anzunehmende Stützwirkung. Zur Erklärung: Die Körpermasse des Pferdes bedingt einen Standwinkel von etwa 140 Grad (Girtler, 2001). In der Bewegung kommt es durch die kinematische Energie zu einer größeren Belastung in der Stützbeinphase und damit zu einer deutlichen Verkleinerung des Fesselgelenkwinkels beim maximalen Durchtreten. Bei einer Gruppe von Pferden wurde der mittlere dorsale Fesselgelenkwinkel beim maximalen Durchtreten im Schritt von 138,1 Grad, im Trab von 124,9 Grad gemessen (Balch et. al., 1998). Back et al. (2002) beschreiben die Mittelwerte der dorsalen Fesselgelenkwinkel im Schritt mit 138,9 Grad und im Trab mit 124,1 Grad. Vergleicht man den Standwinkel mit den Winkeln des stärksten Durchtretens und die oben angegebenen Differenzen der Messungen, kann man im Schritt eine Minderung um annähernd die Hälfte erkennen. Im Trab liegt die Minderung im Bereich von rund 7 bis 10 %. Genauere Aussagen über die Wirkung von Gamaschen können durch detaillierte Betrachtung der einzelnen Tragestrukturen gemacht werden. Im Folgenden wollen wir speziell den Fesselträger näher betrachten. Um eine Kraftminderung des Fesselträgers berechnen zu können, wurden die Ergebnisse der Winkelmessungen in eine Formel eingesetzt, die von Meershoek et al. (2001a) entwickelt wurde und auf inverser Dynamik beruht. Die Resultate der hier durchgeführten Berechnungen der Kräfte können aus dem Diagramm abgelesen werden (Graphik Seite 37) und entsprechen auch den Ergebnissen von Meershoek et al. (2001a). Es kann also eine Änderung des Fesselgelenkwinkels im Vergleich der Gamaschenmessungen zur Leermessung gezeigt werden. Aus dem Vergleich der Stützgamaschen mit der Leermessung kann eine Stützfunktion aufgrund der Materialeigenschaften abgelesen werden. Die Unterschiede zwischen den Ergebnissen der einzelnen Gamaschen beruhen anscheinend auf differierenden Wicklungstechniken sowie einer unterschiedlichen Anzahl an Verschlüssen. Eine Entlastung des Fesselträgers als einzige rein sehnige Struktur mit Tragefunktion im Fesselgelenkbereich kann aus den vorliegenden Daten abgelesen werden. Ein Effekt auf die oberflächliche Beugesehne, die einen großen Anteil an der Fesseltragefunktion einnimmt, ist sehr wahrscheinlich. Jedoch kann nicht bewiesen werden, ob bei Differenzen von bis zu 1,4 Grad im Trab eine ausreichende Stützfunktion für therapeutische Zwecke erreicht werden kann. Dieser Frage müßte in einer weiteren Studie mit sehnenkranken Pferden nachgegangen werden. Auf keinen Fall dürfen Gamaschen herangezogen werden, um das Training nach einer Sehnenverletzung früher als üblich beginnen zu können. Gamaschen können als Prophylaxe in bestimmten Situationen (vermehrtes Training) sowie als zusätzliche Unterstützung beim Übergang von Boxenruhe zur Bewegungstherapie in der Rehabilitation sinnvoll sein.

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Dieser Artikel ist erstmals in Ausgabe 3/2004 der Pferderevue erschienen. Pferderevue AbonnentInnen können ihn zusammen mit über 40.000 weiteren in unserem Online-Archiv kostenlos nachlesen. Einfach unter Service/Online-Archiv einloggen und in allen Heften aus 25 Jahren Pferderevue zum Nulltarif blättern!

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