Gesundheit

Halt, da ist ein Spalt: Fissuren und Brüche beim Pferd richtig behandeln

Ein Artikel von Dr. Bernadette Linsbichler | 01.12.2021 - 13:54
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Tritt- und Schlagverletzungen sind häufige Ursachen für Frakturen an den Pferdebeinen.

Eine Fraktur ist die wohl gefürchtetste Lahmheitsursache beim Pferd. Es ist noch nicht so lange her, dass jeglicher Knochenbruch beim Pferd als Todesurteil galt. Heutzutage kann man viele Frakturen des Pferdes heilen. Sogar im Rennsport, der Königsdisziplin hinsichtlich körperlicher Höchstbelastung, kommen Pferde mit verheilten Frakturen dank innovativer veterinärmedizinischer Forschung auf dem Gebiet der Knochenheilung und Osteosynthese wieder zum Einsatz. Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Heilung ist aber der fehlerfreie und reibungslose Ablauf jedes einzelnen Schrittes, beginnend von der richtigen Versorgung vor Ort durch den Haustierarzt, die Unterstützung beim Transport in die Klinik, die Entscheidung über die Art der Frakturversorgung, die Operation selbst und selbstverständlich auch die Betreuung in der oft sehr heiklen postoperativen Phase. Jede schwere Lahmheit ist deshalb als absoluter Notfall zu betrachten, der/die Tierärzt:in muss so schnell wie möglich zugezogen werden.

Trotz aller Sorgen und Ängste ist es aber sehr wichtig bei einer schweren Lahmheit überlegt vorzugehen und ruhig zu bleiben. Überhastete Entscheidungen bergen in diesen Fällen die größten Fehler. So sollte zum Beispiel dringend davon abgeraten werden, ein schwer lahmes Pferd ohne vorherige Diagnose durch einen Tierarzt und ohne bzw. mit nur unsachgemäßer Stabilisierung der betroffenen Extremität, vielleicht noch mit im Stall vorhandenen Schmerzmittelresten versorgt, auf den Hänger zu stellen und in die Klinik der Wahl zu fahren.

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Ungünstige Prognose: Radiusfraktur bei einem sechsjährigen Vielseitigkeitspferd nach einer Schlagverletzung. © Pferdeklinik Tillysburg

Fraktur oder Fissur?

Unter einer Fraktur versteht man die komplette oder inkomplette Zusammenhangstrennung des Knochens mit oder ohne Stabilitätsverlust. Es entstehen zwei oder mehrere Bruchstücke, die auch verschoben sein können. Die Fraktur kann offen oder geschlossen sein. Eine offene Fraktur liegt vor, wenn etwa Muskeln, Sehnen und oder die Haut ebenfalls durchtrennt wurden und der Knochen freiliegt. Bei dieser Form ist der Frakturspalt durch Schmutz und Mikroorganismen verunreinigt, weshalb die Prognose bei offenen Frakturen erheblich ungünstiger als bei geschlossenen Brüchen ist.  

Bei der Knochenfissur handelt es sich hingegen um einen Riss oder Sprung im Knochen, also eine unvollständige Zusammenhangstrennung, bei der sich nicht zur Verschiebung der die Bruchenden nicht verschieben lassen. Die meisten Fissuren können im Unterschied zu Frakturen ohne Operation versorgt werden - mit ein Grund, warum Fissuren eine wesentlich bessere Prognose als echte Brüche haben. Allerdings: Aus einer Fissur kann jederzeit eine Fraktur werden – die richtige und rechtzeitige Versorgung ist daher absolut essentiell.


Ein spezieller Fall

„Radius“ ist die lateinische Bezeichnung für die „Speiche“. Gemeinsam mit der Elle bildet er die knöcherne Grundlage des Unterarms. Radiusfrakturen werden beim Pferd am häufigsten durch Schläge von Artgenossen verursacht. Aber auch andere starke stumpfe Traumen können dafür verantwortlich sein, dass die Speiche bricht.

Komplette Radiusfrakturen, bei denen die Bruchenden noch dazu verschoben vorliegen, sind relativ eindeutig zu diagnostizieren. Die Pferde können die Extremität nicht belasten, der Unterarm ist geschwollen und instabil. Bei Bewegung kann das Aneinanderreiben der Frakturteile gefühlt und manchmal sogar gehört werden.

Weit weniger einfach zu diagnositizieren sind Radiusfissuren. Betroffene Pferde sind hochgradig lahm, können die Gliedmaße aber meistens noch mit wenig Gewicht belasten. Manchmal findet man Schwellungen im Unterarmbereich, die auf Berührung schmerzhaft reagieren. Der Unterarm ist bei Fissuren stabil, es liegen keine losen Frakturteile vor. Gerade im Anfangsstadium lass sich Radiusfissuren mittels Röntgen nur mit viel Glück feststellen. Die Chancen, den richtigen Winkel zu erwischen, um den feinen Knochenriss darzustellen, sind sehr gering. Erst wenn im Zuge der Heilung Umbauprozesse im Knochen stattfinden - was in der Regel etwa zwei Wochen nach der Verletzung der Fall ist - lässt sich der Fissurspalt röntgenologisch erkennen. Unmittelbar nach einer Verletzung lässt sich damit meist nur der Verdacht aussprechen, dass eine Fissur vorliegen könnte.
 

Erste Hilfe bei Radiusfrakturen

Für die Prognose entscheidend sind neben der Art der Fraktur und dem Alter und Gewicht des Patienten auch die Erstversorgung und der Transport. Eine gute Erstversorgung und ein stabiler Transport können entscheidend für das Überleben des Pferdes sein. Am wichtigsten ist es, bei einer Radiusfraktur mit verschobenen Bruchstücken das betroffene Bein schnellstmöglich zu stabilisieren. So können die Frakturteile daran gehindert werden, sich gegeneinander zu verschieben und mit ihren scharfen Enden intaktes Gewebe zu durchbohren. Oberstes Gebot ist also, zu verhindern, dass aus einer geschlossenen eine offene Fraktur entsteht.

Eine wirkungsvolle Stabilisierung führt zudem auch zu einer Beruhigung des Patienten. Pferde mit Frakturen befinden sich im Schockzustand. Als Fluchttiere reagieren die Vierbeiner extrem nervös, wenn sie merken, dass sie eine ihrer Gliedmaßen nicht mehr verwenden können. Durch die Stabilisierung können sie das verletzte Bein wieder mit etwas Gewicht belasten und beruhigen sich. Ist die Fraktur bereits offen, ist es wichtig, die entstandene Wunde sofort zu versorgen und dem Patienten Antibiotika zu verabreichen. Jede Verzögerung führt zu einer weiteren Kontamination der Bruchstelle und daher zu einer Verschlechterung der Prognose. Wichtig: Die Wundversorgung bei Frakturen ist ausschließlich dem Tierarzt bzw. der Tierärztin zu überlassen!

Zur Stabilisierung des verletzten Beines wird ein fester Stützverband (Robert-Jones-Verband) angelegt, der so weit wie möglich nach oben reichen sollte. Zusätzlich werden zwei Schienen angebracht. Die seitliche Schiene reicht vom Boden bis zum Widerrist, die an der Hinterseite der Gliedmaße angebrachte Schiene reicht vom Boden bis zum Ellbogen. Beide Schienen werden mittels starkem Klebeband oder Cast-Material („Kunstoffgips“) am Verband befestigt. Für das Anlegen des Stützverbandes wird am besten am sedierten Pferd vorgenommen, auf die schmerzausschaltende Komponente in der Sedierung sollte. Der Schmerz hält das Pferd davon ab, sein gebrochenes und noch nicht stabilisiertes Bein zu stark zu belasten.

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Robert Jones Verband mit Schiene

Sobald der Stützverband sitzt, sollte der nächste Weg in die Klinik führen. Beim Transport sollte das Pferd die Möglichkeit haben, sich beidseitig anzulehnen. Ein ruhiges Pferd kann man mittels Gurten, die quer unter dem Bauch befestigt werden, zusätzlich stabilisieren.  


Behandlung von Radiusfrakturen und Radiusfissuren

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Günstige Prognose: Radiusfraktur bei einem Fohlen, die mittels operativer Verplattung behandelt wurde. © Pferdeklinik Tillysburg

Radiusfrakturen beim Pferd sind nach wie vor komplizierte Brüche, ihre Versorgung ist äußerst schwierig. Bei Pferden mit einem Körpergewicht unter 300 kg haben die meisten geschlossenen Radiusfrakturen, sofern sie (mit Platten) operativ versorgt werden, noch die beste Prognose.

Junge Tiere haben generell bessere Heilungschancen als erwachsene Tiere. Bei ausgewachsenen Großpferden gilt die Prognose für verschobene Radiusfrakturen allgemein als sehr ungünstig. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Auf die für die Frakturstabilisierung verwendeten Implantate (v. a. Platten, Schrauben) wirken beim Pferd allein durch das Gewicht große biomechanische Kräfte, Implantatversagen ist häufig die Folge. Ein weiterer Grund für das Fehlschlagen einer Therapie sind die sehr häufig auftretenden Infektionen im Implantatbereich. Diese führen zu einer Lockerung der Schrauben und zu einer Instabilität der versorgten Fraktur. Durch die ständige Mehrbelastung der gegenüberliegenden Gliedmaße kommt es häufig früher oder später zur Entstehung einer Belastungshufrehe mit all ihren möglichen Folgen.

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Eine Fissur zeigt sich häufig erst zwei Wochen nach ihrer Entstehung auf dem Röntgenbild.
© Bernadette Linsbichler

Nicht verschobene Frakturen und Radiusfissuren kommen hingegen häufig ohne OP aus und können oft sogar zu Hause im eigenen Stall behandelt werden. Deshalb ist es essentiell, bei Fissurverdacht sofort richtig zu handeln, um nicht eine Fissur in eine Fraktur zu verwandeln. Ist ein Pferd schwer lahm, muss, wie bereits erwähnt, sofern nicht eine andere eindeutige Diagnose gestellt werden kann, auch bei unauffälligen Röntgenbildern von einer Fissur ausgegangen werden. Bei Verdacht auf Radiusfissur sollte daher zur Sicherheit auch hier ein hoher Stützverband  angelegt werden. Das Pferd muss bis zum Kontrollröntgen in 14 Tagen absolute Boxenruhe haben. Eigentlich sollten die betroffenen Pferde auch ausgebunden werden, um zu verhindern, dass sie sich hinlegen. Denn beim Aufstehen wirken enorme Scherkräfte auf die Gliedmaßen des Pferdes, die zu einer Fraktur des bereits vorgeschädigten Knochens führen können.

Sind all diese Maßnahmen getroffen, ist es auch möglich, entzündungshemmende Substanzen zu verabreichen. Diese reduzieren die Entzündung im Weichteil- und Knochenbereich und sorgen dafür, dass das Bein ein bisschen Gewicht aufnehmen kann. Damit der Knochen heilen kann, braucht er auch Belastung.

Was niemals gemacht werden darf: Ein schwer lahmes Pferd mit Fissurverdacht auf die Koppel stellen und dabei mit Entzündungshemmern versorgen! Die Entzündungshemmer wirken schmerzlindernd, das Pferd fühlt sich besser, bewegt sich mehr und geht ohne Stabilisierung durch einen geeigneten Verband die Gefahr ein, dass der bereits eingerissene Knochen bricht. Aus demselben Grund sollte im Rahmen der Lahmheitsdiagnostik bei Fissurverdacht auf den Einsatz von Leitungsanästhesien verzichtet werden. Ein „Vortraben“ ist ebenfalls aus genannten Gründen obsolet.

Wird nach zehn bis 14 Tagen der Fissurverdacht mittels Röntgen bestätigt, sollte das betroffene Pferd drei bis vier Monate absolute Boxenruhe haben. Nach drei Monaten kann angefangen werden, das Pferd im Schritt an der Hand zu führen. Es ist empfehlenswert, erst nach sechs Monaten wieder mit der normalen Arbeit zu beginnen. Vorausgesetzt, sie werden richtig behandelt, haben Radiusfrakturen zum Glück eine sehr gute Prognose.

Was tun beim Beinbruch?  

Leider kommt es immer wieder vor, dass Brüche, die an und für sich eine gute Prognose gehabt hätten, durch mangelhafte oder falsche Erstversorgung zu wenig aussichtsreichen Fällen werden. Daher hier in Kürze die vier wichtigsten Maßnahmen:

1. Ruhe. Beruhigen Sie sich – und beruhigen Sie vor allem das Pferd. Es sollte nicht mehr bewegt werden und die verletzte Gliedmaße ohne Stützverband nicht mehr belasten. Bei offenen Brüchen sollte man das Pferd an Ort und Stelle belassen, die Wunde nicht angreifen, das Tier nicht transportieren, sondern den Tierarzt sofort zum Pferd kommen lassen. Auf keinen Fall Salben auf die Wunde auftragen, höchstens vorsichtig wasserlösliches Desinfektionsmittel aufbringen.

2. Stabilisieren. Bei geschlossenen Frakturen ist es wichtig, den Bruch zu stabilisieren, so dass es nicht zum offenen Bruch kommt und auch, um die anderen Gliedmaßen nicht zu überlasten. Optimal ist ein Robert-Jones-Verband, bei dem sich polsternde und festigende Lagen abwechseln. Als Polstermaterial eignen sich Watte, Bandagenunterlagen, eventuell Handtücher oder im Notfall auch mehrere Lagen Zeitungspapier, schichtweise mit Binden fixiert. Als Fixiermaterial kann man elastische Binden, Bandagen, Tesafilm oder Leukoplast verwenden. Zur Schienung eignen sich Holzstäbe oder -latten sowie halbe, der Länge nach aufgeschnittene Kunststoffrohre (z. B. Abflussrohr). Das Polstermaterial muss möglichst faltenfrei angelegt werden. Wenn irgend möglich sind beide benachbarten Gelenke in den Verband miteinzubeziehen, das heißt, der Verband muss über das benachbarte Gelenk nach oben und ganz bis zum Boden reichen. Bei einer Fraktur sollte ein Robert-Jones-Verband nur für eine kurzfristige Immobilisierung angelegt werden. Ist eine längere Stabilisierung gefragt (Transport etc.) müssen unbedingt Schienen zum Einsatz kommen oder das Bein muss gecastet werden.

3. Richtig Schienen. Wichtig ist, dass Schienen nicht im Frakturbereich enden dürfen, sondern immer über das Niveau der Frakturlinie reichen müssen.Grundsätzlich werden die Gliedmaßen punkto Schienen und ihre korrekte Lage in vier Bereiche eingeteilt:

Hufbein/Kronbein/Fesselbein/Sesambeinfrakturen:
Bei diesen Frakturen wird der hintere Hufbereich durch einen Keil oder ähnliches erhöht, sodass Kron- und Fesselbein in einer geraden Linie stabilisiert werden können. Danach wird entweder ein Cast bis auf Höhe Ende Rohrbein angelegt oder es wird ein Stützverband mit einer dorsalen Schiene (vorne am Bein) bis zur selben Höhe angebracht. Gute Alternativen, die schnell angebracht werden können, sind im Handel erhältliche zur sofortigen Montur geeignete Kimzey- oder Monkey-Schienen.

Rohrbeinfrakturen, Frakturen im Karpal- oder Tarsalgelenk:
Cast oder Verband mit Schiene vom Huf bis zum Ellbogen- oder Kniegelenk. An der Vordergliedmaße wird die Schiene hinten angebracht, an der Hintergliedmaße vorne.

Radius-/Tibiafrakturen (Speiche/Elle/Schienbein):
Bei Schienbeinfrakturen sollte eine Schiene vorne bis zum Kniegelenk und eine Schiene seitlich bis zur Hüfte reichen (siehe Haupttext).
Frakturen der Elle: Wenn die Elle frakturiert ist, wird der passive Trageapparat der Vordergliedmaße außer Kraft gesetzt, und das Vorderfußwurzelgelenk kann nicht mehr gestreckt werden. Die Gliedmaße geht in „Kusshandstellung“. Eine Schiene sollte hinten vom Fesselgelenksbereich bis zum Ellbogengelenk  angebracht werden.

Oberarm-/Oberschenkelfrakturen:
bei diesen Frakturen ist keine Stabilisierung möglich

4. Der Transport. Der Pferdehänger sollte so nah wie möglich ans Pferd gebracht werden. Vor dem Einladen sollte das Pferd ein paar Schritte auf ebenem Boden gehen, um sich an den Verband und die stabilisierte Gliedmaße gewöhnen zu können, bevor es damit auf die Rampe geht. Fürs Verladen sollte ein Zaumzeug angelegt werden, um das Pferd besser kontrollieren zu können. Zusätzlich sollten zwei Longen rechts und links am Hänger angebracht werden. Zwei Helfer halten die Longen und bewegen sich langsam zueinander. Das Pferd steht so in einem Tunnel und wird davor bewahrt, seitlich von der Rampe zu gleiten.
Sehr oft liest man die Empfehlung, ein Pferd mit einer Vorderbeinfraktur mit der Krupp voraus zu transportieren. Ein Pferd rückwärts einzuladen ist schon ohne Fraktur nicht einfach und nicht ungefährlich. Ist eine vordere Verladerampe vorhanden, so ist diese meist schmäler und steiler als die hintere, was auch Gefahren birgt. Mit dem Kopf nach hinten zu stehen ist auch sehr unkomfortabel für das Pferd. Aus Platzmangel muss der Hals entweder zur Seite oder nach oben gehalten werden. Der Kopf und der Hals sind aber essentiell fürs Pferd, um die Balance zu halten. Ein weiterer Nachteil ist, dass die verletzte Gliedmaße genau zwischen Hinterachse und geschlossener Rampe zu stehen kommt, einem Bereich also, in dem jede Bodenwelle doppelt so stark übertragen wird.
Ausgeladen sollte das Pferd, wenn möglich, mit den gesunden Extremitäten voran werden. Das bedeutet bei einer Fraktur der Hintergliedmaße, dass das Pferd am besten über die vordere Verladerampe (so vorhanden) ausgeladen wird, bei einer Fraktur der Vordergliedmaße durch die hintere. Zum Ausladen sollte das Pferd leicht sediert werden. Die neue Umgebung an der Klinik und die damit verbundenen Eindrücke machen die meisten Pferde nervös und hektisch. Um eine Kurzschlussreaktion mit all ihren möglichen Folgen zu vermeiden, ist eine Sedierung angebracht.