Krankhaftes Fressverhalten

Problemfall: Das nimmersatte Pferd

Ein Artikel von Pamela Sladky | 29.06.2022 - 13:01
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Wenn Pferde gar nicht mehr aufhören wollen zu fressen, obwohl sie längst genug haben müssten, steckt oft ein ernstzunehmendes Problem dahinter. ©www.Slawik.com

So ein Pferd kennt vermutlich jede:r: Egal wie viel Heu es vertilgt, Gras es geknabbert und Kraftfutter es verdrückt hat – sobald sich eine Gelegenheit bietet, wird sie genutzt, um noch mehr in sich hineinzustopfen. Da scheint es auch egal, ob das Hälmchen kümmerlich, das Blättchen welk oder das Zweiglein knochentrocken ist – für das Pferd kommt es wie gerufen. Pferdebesitzer:innen versehen ihren Dauerfresser oft mit humorigen Spitznamen wie Vielfraß oder Nimmersatt. Was sie dabei übersehen: Hinter einem permanent hungrigen Pferd steckt in vielen Fällen ein ernstes Problem.

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Warten aufs Futter © www.Slawik.com

Angelerntes Fressverhalten

Permanente Fresssucht kann auch ein erlerntes Verhalten sein. Die Ursache liegt, wie so oft, beim Menschen. Von Natur aus wendet das Pferd über den ganzen Tag verteilt bis zu 18 Stunden für die Nahrungsaufnahme auf. Pferde sind streng genommen also tatsächlich Dauerfresser, „aber sie stellen ihre Fressmenge ein und auch die Fressgeschwindigkeit. Das heißt, sie nehmen normalerweise nur so viel an Kalorien auf, wie sie über den Tag hinweg auch verbrauchen“, weiß Pferde-Ernährungsexpertin Dr. Fritz.

Steht den Pferden rund um die Uhr Nahrung zur Verfügung, können sie ihre Futteraufnahme individuell an den tatsächlichen Bedarf anpassen. In der Aufzucht ist das meist noch der Fall. Das Unglück nimmt oft seinen Lauf, wenn das junge Pferd in einen Reitstall einzieht. Dort wird Raufutter portioniert zwei- bis dreimal täglich vorgelegt. In den – meistens mehrere Stunden andauernden – Fresspausen entwickelt das Pferd ein starkes Hungergefühl. Gibt es dann wieder Heu, wird es mit hohem Tempo verschlungen, wodurch sich die Fresszeit verkürzt und die Dauer, in der es nichts gibt, entsprechend verlängert. „Was wir ihnen mit dieser Fütterung beibringen ist: Du hast immer Hunger, es gibt nie genug und du wirst nie satt“, kritisiert die Ernährungsexpertin. „Werden die Pferde dann wieder auf eine ad-libitum-Fütterung umgestellt, fressen sie in den ersten Tagen und Wochen tatsächlich so, als gäbe es kein Morgen. Sie stehen da und schlingen, schlingen, schlingen, weil sie ja gelernt haben: ‚Irgendwann ist das Futter alle und dann habe ich wieder stundenlang Hunger und es geht mir schlecht.‘“

Erfahrungsgemäß dauert es zwischen zwei und sechs Wochen, bis sich die Pferde auf die neue Situation eingestellt haben. „Dann macht es irgendwann ‚klick‘ im Kopf und die Pferde wissen: ‚Heu steht rund um die Uhr zur Verfügung, mir frisst keiner was weg. Ich kann jetzt auch mal ganz beruhigt eine halbe Stunde dösen gehen.‘ Dann reguliert sich das Fressverhalten der Pferde. Das ist der Normalzustand“, erklärt Dr. Fritz. Normalisiert sich dieses anfängliche Verhalten nach ein paar Wochen nicht, stimmt etwas nicht. Dann ist Ursachenforschung angesagt, bevor das Pferd zu stark an Gewicht zulegt.

Wenn das „Satt“-Hormon versagt

Im Normalfall regelt unter anderem ein Hormon namens Leptin die Nahrungsaufnahme. Leptin wird vom Fettgewebe produziert. Wachsen die Fettdepots, weil mehr Energie aufgenommen als verbraucht wird, steigt der Leptingehalt im Blut, was vom Sättigungszentrum im Hypothalamus registriert wird. Die Folge: Das Pferd fühlt sich satt, das Hungergefühl wird gedrosselt.

Bei einem Überangebot an leicht zugänglicher, gehaltvoller und schmackhafter Nahrung kommt das System allerdings schon mal ins Trudeln. Das Schlaraffenland vor der Pferdenase verführt den eigentlich gesättigten Vierbeiner zum Weiterfressen, obwohl sein Bedarf längst gedeckt ist. In manchen Fällen spielt auch Fresskonkurrenz eine Rolle für übermäßige Futteraufnahme. So haben Studien gezeigt, dass sich z.B. satte Fjordpferde leicht zum Weiterfressen motivieren lassen, wenn ein Artgenosse ebenfalls frisst, Vollblutaraber hingegen nur geringfügig auf Fresskonkurrenten reagieren.

Das Problem am Dauerfressen: „Wenn permanent mehr Energie aufgenommen als benötigt wird, und permanent Fettgewebe aufgebaut wird, dann wird auch permanent Leptin ausgeschüttet. Und irgendwann reagiert der Körper nicht mehr“, erklärt Dr. Christina Fritz. Das führt dazu, dass Moppelpferde, egal wie viel sie fressen, nie wirklich satt werden und sich ständig hungrig fühlen. Diesen Zustand bezeichnet man als Leptinresistenz. Beim Menschen und manchen Tieren wie Mäusen ist dieses Phänomen bereits recht gut erforscht, beim Pferd steht die Wissenschaft bei diesem Thema hingegen noch ganz am Anfang. Dennoch geht man davon aus, dass sich die Sache bei den großen Vierbeinern ganz ähnlich verhält.

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Manchmal steckt hinter Dauerhunger ein gestörtes Darmmilieu. © www.Slawik.com

Der Darm im Ungleichgewicht

Die Unempfindlichkeit des Körpers gegenüber dem Botenstoff Leptin kann eine Ursache für andauernden Heißhunger sein. Ein gestörtes Darmmilieu und damit einhergehend ein Ungleichgewicht im Mineralstoffhaushalt ist nach Dr. Fritz’ Erfahrung jedoch viel häufiger der Grund. „Pferde, die in diesem Bereich ein Defizit haben, versuchen durch übermäßiges Fressen ihren Darm zu stabilisieren und den gestörten Vitamin- und Mineralhaushalt wiederherzustellen“, so die Fütterungsexpertin. In freier Wildbahn würden solche Pferde ganz gezielt bestimmte Kräuterarten fressen. „In unserem Heu sind aber nur noch sehr wenige Kräuter enthalten, sodass die Pferde Massen reinstopfen müssen, in der Hoffnung, dass sie genügend Wirkstoffe rausziehen, um sich irgendwie wieder regulieren zu können“, erklärt Dr. Fritz. Eine Strategie, die nach hinten losgehen kann. Denn mit dem Versuch, ihren Stoffwechsel zu balancieren, nehmen die Pferde übermäßig viel Energie auf, was Übergewicht und weiteren Problemen Tür und Tor öffnet. Insbesondere im Hinblick auf die hohen Zuckergehalte in unserem Heu und den geringen Kräuteranteil sorgt dann das übermäßige Fressen eher für Gewichtszunahme und nicht für eine Regulation des Stoffwechsels. Häufig genug folgt dann auf den gestörten Mineral- und Vitaminhaushalt als nächstes eine Insulinresistenz.


Zuckerkrank durch „Dauerfressen“ – und umgekehrt

Denn mit Fettleibigkeit geht oft ein anderes Hormonproblem einher – die Insulinresistenz. Sie bezeichnet einen Zustand, in dem der Körper auf die Ausschüttung von Insulin nur mehr unzureichend mit einer Regulation des Blutzuckers – also dessen Transport vom Blut ins Gewebe – reagiert. Als direkte Folge nimmt der Blutzuckerspiegel zu. Das perfide an der Insulinresistenz: Die Muskulatur, eigentlich ein riesiger Zuckerspeicher, kann den ausreichend zur Verfügung stehenden Energiestoff, den sie für die Bewegung benötigt, nicht aus dem Blut aufnehmen. „Deshalb meldet sie dem Gehirn: ‚Ich brauche Energie!‘ Das Gehirn reagiert, indem es ein gesteigertes Hungerverhalten auslöst, das Pferd frisst mehr, der Blutzuckerspiegel steigt an, aber da die Muskelzelle insulinresistent ist, kann sie den Zucker gar nicht aufnehmen und meldet weiter ‚Ich hab Hunger, ich brauche Energie!‘. Und damit kommt der Stoffwechsel in einen Teufelskreis, aus dem das Pferd selbst unter den gängigen Bedingungen häufig nicht rauskommt.“, so Dr. Fritz.
 

Den Teufelskreis durchbrechen

Doch wie gelingt nun der Ausbruch aus diesem Teufelskreis? „Was definitiv nicht hilft, ist die Pferde kurz zu halten. Einfach zu sagen: Dann kriegt er eben nur seine sechs Kilo Heu am Tag, aufgeteilt auf zwei Mahlzeiten, eine morgens, eine abends. Das macht die Pferde nur noch unzufriedener und futtergieriger“, warnt Dr. Fritz. Sie rät zu folgenden Maßnahmen:

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Im Offenstall sollten die Pferde nach individuellem Futterbedarf gruppiert werden. Das erleichtert eine angepasste Fütterung.
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  1. Fressdauer maximieren
    Pferde mit permanentem Heißhunger sollten möglichst ständig die Möglichkeit zur Futteraufnahme haben. Aber: „Ich muss dafür sorgen, dass das Pferd nicht übermäßig viel fressen kann.“ Hier können engmaschige Heunetze und andere Slow-Feeding-Systeme helfen, die Fressdauer zu verlängern. So kann das Pferd zwar ständig Futter zu sich nehmen, aber nicht schlingen. Mehrere Heu-Stationen und Heu-Stroh-Mischungen in den Netzen sorgen ebenfalls für langsamere Futteraufnahme.

  2. Zuckerarmes Heu füttern
    Die Heuqualität ist ein entscheidender Faktor für die Gesunderhaltung eines Pferdes. Bei kranken Tieren ist sie umso wichtiger. Pferde mit Stoffwechselproblemen benötigen Heu mit sehr geringem Zuckeranteil. „Dadurch, dass uns die Saatgutindustrie Hochzuckergräser beschert hat, haben wir oft sehr hohe Zuckergehalte im Heu – 12 bis 16 % sind heute eher die Regel denn die Ausnahme. Ideal ist ein Gehalt von unter 6 %“, erklärt Dr. Fritz. Derart zuckerarmes Heu schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Es ist gesünder und es schmeckt auch nicht ganz so verführerisch. „Nährstoffreiches Heu ist natürlich auch lecker. Das ist wie Schokoriegel fürs Kind.“

  3. Pferdegruppen geschickt einteilen
    In Boxenhaltung ist eine individualisierte Fütterung noch relativ einfach. „Da kann ich mein eigenes Heu kaufen und mein Pferd bekommt eben nur dieses magere Heu. Und der Vollblüter daneben, der im Sport geht, bekommt halt sein nahrhaftes Heu“, meint Dr. Fritz. Aufwendiger wird die Sache im Offenstall. Hier gilt es, sehr genau auf die Herdenzusammenstellung zu achten. „Alle normal- bis schwerfuttrigen Kandidaten muss ich in eine Gruppe stellen, die leichtfuttrigen gehören in eine andere Gruppe – und die bekommen das magerste Heu, das ich kriegen kann, in die Raufe. Und zwar in Kombination mit einem engmaschigen Heunetz – dann klappt das!“, empfiehlt Dr. Fritz.

  4. Bewegen, bewegen, bewegen
    Die Heufütterung und die Gruppenzusammenstellung kann man als Einsteller:in in einem Pferdehaltungsbetrieb oft nur eingeschränkt beeinflussen. Leichter lässt sich an anderer Stelle optimieren: an der Auslastung des Pferdes. „Das ist etwas, was ganz viele Pferdebesitzer nicht hören wollen: Das fressgierige Pferd muss mehr arbeiten!“ Gerade bei Stoffwechselkandidaten reicht es nicht, das eigene Gewissen damit zu beruhigen, dass das Pferd ohnedies ganztägig Koppelgang hat oder im Offenstall steht. „Man muss die Pferde trainieren. Und zwar gescheit.“ Und mit „gescheit“ meint die Expertin: „Wenn man es schafft, sein Pferd jeden Tag leicht zu arbeiten – und leicht arbeiten heißt 20 Minuten traben, 15 Minuten galoppieren – und dann vielleicht einen Tag pro Woche noch ein bisschen knackiger zu trainieren, z.B. zwei bis drei Stunden ausreiten gehen, mit insgesamt einer Dreiviertelstunde Trab und einer Viertelstunde Galopp, dann wäre das nah am Optimum.“ Dieses Optimum erreichen vor allem im Freizeitbereich jedoch nur die wenigsten Pferdebesitzer:innen. 20 Minuten im Viereck im Schritt und gemächlichem Trab seine Runden zu ziehen oder einen gemütlichen Spaziergang im Gelände zu machen, hat mit Auslastung nichts zu tun: „Die meisten sind der Meinung, dass ihr Pferd ordentlich gearbeitet hätte, wenn sie eine Stunde im Schritt ausreiten. Dann wird ihm schon der Müslikübel vorgeschoben. Dabei sollte eigentlich klar sein: Schritt gehen ist keine energiezehrende Arbeit für Pferde, sondern Erhaltungsbedarf“, erinnert Dr. Fritz.

  5. Professionelle Hilfe holen
    Hat das Pferd einen unausbalancierten Mineralstoffhaushalt? Ist das Darmmilieu gestört? Ist eine Stoffwechselerkrankung wie das Equine Metabolische Syndrom oder Equines Cushing Auslöser für das unnatürliche Fressverhalten? Diese Fragen kann am besten ein Tierarzt oder eine Therapeutin beantworten. Lässt sich mit einer optimierten Rau- und Kraftfutterfütterung und einem optimierten Trainingsprogramm keine Besserung im Verhalten des Pferdes erzielen, holen Sie sich professionelle Hilfe in den Stall! Oft muss nur an wenigen Schrauben gedreht werden, damit dem Pferd nachhaltig  geholfen ist. Es müssen aber die richtigen sein. Um diese zu erkennen, braucht es Kompetenz und Erfahrung. Selbständiges Herumprobieren und wahlloses Füttern von Zusätzen kann ein bestehendes Problem im schlimmsten Fall noch verstärken. Deshalb besser gleich einen Profi um Hilfe bitten.
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Fressgierige Pferde müssen mehr arbeiten als normal- und schwerfuttrige Pferde. Wichtig: Ordentlich traben und galoppieren! © www.Slawik.com

Rechtzeitig handeln

Ständiger Heißhunger und permanente Futtergier sind auch bei einem natürlichen Dauerfresser wie dem Pferd nicht normal. Wer dieses Verhalten bei seinem Vierbeiner erkennt, sollte sich um rasche Abhilfe bemühen. Denn ein gestörtes Fressverhalten macht Pferde nicht nur unzufrieden, sondern auf Dauer krank.