LAHMHEITEN ERKENNEN LERNEN

Läuft alles rund?

Ein Artikel von Claudia Götz | 22.11.2023 - 17:21
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Ob ein Pferd lahmt und wenn ja, auf welchem Bein, ist auch für Geübte  nicht immer einfach zu erkennen. © Elke Hellmich

Pferdehalter:innen sind nicht gerade Weltmeister im Erkennen von Lahmheiten. Das legen mehrere Forschungsarbeiten, die rund um das Thema durchgeführt wurden, nahe. So zeigte eine Studie aus der Schweiz, dass gut 50 Prozent der beteiligten Personen nicht in der Lage war, leicht- und mittelgradigen Lahmheiten ihrer Pferde zur erkennen. Die befragten Pferdehalter: innen waren dabei keine blutigen Anfänger:innen, sondern durchwegs recht erfahren im Pferdesport: 43 Prozent sind im Besitz einer Lizenz des Schweizerischen Verbands für Pferdesport, und 74 Prozent gaben an, sich regelmäßig in fachlichen Veranstaltungen weiterzubilden. Wie kann es unter diesen Voraussetzungen zu einem solch besorgniserregenden Ergebnis kommen?
 

Den Normalzustand kennen

„Es sollte in Betracht gezogen werden, dass die Reiter wahrscheinlich nicht allzu oft Gelegenheit haben, ihr Pferd vortraben zu lassen, um seinen Gang (im ungerittenen Zustand) beurteilen zu können“, räumen die Forscher:innen o. g. Studie ein. Da jedes Pferd ein eigenes unvergleichliches Gangmuster hat, ist es deshalb zunächst wichtig, zu wissen, was für dieses Pferd noch normal ist – von der noch nicht durch gute Ausbildung verbesserten angeborenen Schiefe bis zu erworbenen Verletzungen.

Viele Pferde haben beispielsweise unterschiedliche Hufwinkel an den Vorderhufen. Diese können in der Bewegung des Pferdes den Eindruck von kompensatorischen Bewegungsmustern erwecken. So kann ein deutlich flacherer linker Vorderhuf neben einem steileren rechten Vorderhuf den Eindruck vermitteln, das Pferd falle auf das linke Vorderbein und sei damit rechts lahm. Allerdings kann auch eine über längere Zeit lahme Vorderextremität einen steileren und kleineren Huf entwickeln als ihr gesundes Gegenüber, sodass der Eindruck durchaus stimmen kann.

Aber auch ganz normales Pferdeverhalten kann einer aufmerksamen Halterin weitere Hinweise liefern, dass möglicherweise Probleme drohen: So kann das sogenannte Schildern – das Ruhen des Pferdes im Stehen, bei dem ein Bein auf der Hufspitze aufgesetzt wird –, wenn es plötzlich immer auf demselben Bein stattfindet, ein Hinweis auf eine mögliche Lahmheit sein. Auch das Aufstehen nach längerem Liegen oder auch nur nach dem Sich-Wälzen kann wertvolle Hinweise auf Probleme des Bewegungsapparats geben: Wie drückt das Pferd sich ab? Kraftvoll oder eher zögerlich? Belastet es im Aufstehen beide Beine oder entlastet es immer in einem bestimmten Moment des Bewegungsablaufes ein Bein? Entlastet es direkt nach dem Aufstehen ein Bein deutlich?

„Pferde, die als lahm beurteilt wurden, zeigten während und auch nach dem Aufstehvorgang häufiger eine Entlastungshaltung einer Gliedmaße. Die Lahmheit spiegelte sich auch in der Dauer des Sich-Niederlegens wider, sie variierte bei lahmen Pferden stark und war signifikant länger als bei nicht lahmen Tieren", sagt Anna-Maria Fuhs, die im Rahmen ihrer Diplomarbeit Unterschieden im Liege- und Aufstehverhalten von Pferden mit Störungen des Bewegungsablaufes untersuchte.

Wer also regelmäßig beobachtet, wie sein Pferd normalerweise aufsteht und ob es sich nur noch selten oder gar nicht mehr niederlegt oder sich mit dem Aufstehen besonders Zeit lässt, wird Veränderungen schnell erkennen und kann gezielter weitere Beobachtungen machen. Univ. Prof. Theresia Licka, die sowohl an der Vetmeduni Vienna als auch privat in Leopoldsdorf als Pferde-Orthopädin und Sportmedizinerin arbeitet, bringt es auf den Punkt:

„Je besser man den normalen Bewegungsablauf seines Pferdes kennt, umso leichter tut man sich, Ganganomalien zu erkennen.“


Theresia Licka, Pferdeorthopädin und Sportmedizinerin

Keine leichte Übung

Nicht nur für Laien ist es sehr schwer, leichte und mittelgradige Lahmheiten zu erkennen. Auch Tierärzte müssen dies erst lernen. Und sie müssen nicht nur erkennen, dass ein Pferd nicht klar geht, sondern auch, an welchem der vier Beine das Problem sitzt, um weiter diagnostizieren zu können. Wie sie das am besten lernen, zeigt beispielsweise eine an der Vetmeduni Vienna durchgeführte Studie, die untersucht hat, wie Student:innen der Veterinärmedizin durch körperliche Selbsterfahrung für die Lahmheitsbeurteilung geschult werden können. Demnach profitieren Student:innen davon, die Bewegungen des (lahmen) Pferdes zu imitieren. Theresia Licka erklärt: „Visuell hat man die Chance, Lahmheiten besser zu erkennen, wenn man sich in den Patienten versetzt. Die Wahrnehmung wird dadurch geschärft.“


Die Sinne schulen

Laut Licka hätte es für die Pferde enorme Vorteile, wenn auch Pferdebesitzer:innen erkennen lernten, wann ein Pferd sein Bewegungsmuster verändert. „Denn auch kleine Einschränkungen sollten rechtzeitig behandelt werden, bevor offensichtliche Probleme daraus entstehen.“ Dabei geht es nicht zwingen darum zu erkennen, wo genau das Problem sitzt, sondern dass das Pferd nicht mehr rund läuft.

Dazu ist es nötig, das eigene Auge zu schulen. Aus ihrer Arbeit als Unterrichtende hat Licka viele verschiedene Tipps, die auch Reiter:innen helfen können, ihren Blick für die Bewegungsabläufe zu schärfen. „Es ist anfangs schwierig, das ganze Pferd wahrzunehmen, deshalb sollte man mit einzelnen Teilen üben“, sagt Prof. Theresia Licka. Ihren Student:innen hilft es, sich zu Beginn auf die Bewegung beider Ohrspitzen zu konzentrieren und nicht den gesamten Kopf betrachten. „Man hält dafür beispielsweise ein Klemmbrett horizontal vors Pferd und betrachtet nur die obere Hälfte des Kopfes, besonders die Ohren.“

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Am Anfang hilft es, sich nur auf die Ohrenspitzen zu konzentrieren, der Rest wird optisch abgedeckt. © Claudia Götz

Doch nicht nur das Auge kann man schulen. Je nach Wahrnehmungs- und Verarbeitungstyp – optisch, akustisch oder kinästhetisch – tut man sich als Mensch manchmal beim Hören leichter: Wie ist der Takt? Gleichmäßig oder mit Taktstörung? Wie laut fußen die einzelnen Hufe auf? Hier ist allerdings zu beachten, dass auch unterschiedliche Hufformen, unterschiedliche Beschläge oder das Losewerden eines Beschlags sehr großen Einfluss auf die Geräusche haben.

Auch das Fühlen sollte man nicht außer Acht lassen, denn unter dem Sattel ist eine geringgradige Lahmheit oft zuerst zu spüren.  

Ein häufig übersehenes Indiz ist der Kreuzgalopp. In den meisten Fällen steckt eine Lahmheit des inneren Hinterbeins dahinter, die den korrekten Galopp unangenehm für das Pferd macht.


Theresia Licka, Pferdeorthopädin und Sportmedizinerin

Unter dem Sattel kann man Lahmheiten als Reiter:in zudem an weiteren Anzeichen frühzeitig erkennen lernen: Wenn der Sattel stärker auf eine Seite schiebt, das Pferd den/die Reiter:in vermehrt auf eine Seite setzt, vor allem in Wendungen, oder sich auf einer Hand schlechter stellen und biegen lässt, kann eine beginnende Lahmheit dahinterstecken. „Auch Hautläsionen in der Sattellage können Hinweise sein“, so die Orthopädie-Professorin, „und das Leichttraben sollte sich auf beiden Händen gleich anfühlen.“

Zudem zeigen sich beginnende Bewegungsstörungen auch schon frühzeitig an der Abnutzung der Hufe oder der Beschläge: Das Eisen oder der Huf werden dann beispielsweise außen oder innen stärker abgenutzt. Das kann man leicht selber überprüfen und sich beispielsweise bei jeder Bearbeitung der Hufe vor der Abnahme der Eisen zum Vergleich ein Foto auf dem Handy abspeichern.

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Gleichmäßig bemalte Parcoursstangen können helfen, die Schrittlänge besser einzuschätzen. © Claudia Götz

Gemeinsam sehen lernen

Wer sein eigenes Pferd im Selbstversuch besser kennenlernen möchte, kann sich beispielsweise mit Stallkolleg:innen zusammentun und einander die Pferde gegenseitig vorführen. Da es anfangs schwierig ist, das Gesamtbild wahrzunehmen, sollte man sich zum Sehenlernen auf viele verschiedene einzelne Aspekte konzentrieren: Bewegen sich Huf, Fessel, Sprunggelenk und Kruppe an beiden Hinterbeinen unterschiedlich hoch?

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Das Pferd von links und rechts auf sich zu führen lassen

  • Lassen Sie jemanden das Pferd im Schritt führen und gehen Sie im Abstand von etwa drei bis sechs Metern hinterher und beobachten Sie: Fußen die Beine auf gleicher Linie oder schwingt eines mehr nach innen oder außen?
  • Dreht ein Huf, setzen sie alle plan auf oder kippt einer oder mehrere Hufe beim Auffußen von einer Seite?
  • Wie trägt das Pferd seinen Schweif? Entspannt und gerade oder schief?
  • Lassen Sie dann das Pferd auf sich zu führen und beobachten Sie wieder die Linie, in der die Beine fußen und wie die Hufe aufsetzen. Wie trägt das Pferd seinen Kopf, wo sind die Ohren?
  • Lassen Sie das Pferd im Abstand von einigen Metern an sich vorbeiführen. Wichtig ist immer, dass das Pferd nicht am Strick hinterhergezogen wird. Beobachten Sie (von beiden Seiten) ob die Schritte verschieden lang oder im Bewegungsablauf unterschiedlich sind. Manchen Menschen helfen gleichmäßig angemalte Stangen aus dem Parcours, die parallel zum Weg, auf dem das Pferd vorgeführt wird, gelegt werden, um Schrittlängen besser einschätzen zu können.

Beobachten Sie in einem Durchgang jeweils nur Vorder- oder Hinterbeine. Machen Sie die Übung im Schritt und im Trab. Ideal ist es, diese Übungen mit drei Personen zu machen, sodass sich immer zwei über ihre Beobachtungen austauschen können. Das Miteinander hilft auch, eine Betriebsblindheit fürs eigene Pferd zu überwinden, denn bei fremden Pferden sieht man vieles oft besser.

Was man sonst tun kann

Einmal im Jahr, so die Empfehlung von Theresia Licka, sollten Pferdebesitzer: innen standardisierte Videoaufnahmen ihres Pferdes machen, da sich der Gang vieler Pferde graduell verändert und man dies am schlechtesten erkennt. „Dann heißt es von Seiten der Pferdebesitzer: innen, das Pferd sei schon immer so gelaufen – und wenn man sich ein zwei oder drei Jahre altes Video anschaut, sieht man, dass das Bewegungsmuster damals noch nicht vorhanden war.“

Eine weitere Möglichkeit, sein Auge zu schulen, ist, seine Tierärztin zu bitten, einen entsprechenden Kurs anzubieten, bei dem man anhand von beispielhaften Ganganalysen Bewegungsmuster von Pferden besser einordnen lernt – bei den eigenen Pferden und denen der anderen Kursteilnehmer:innen. Bei solchen Kursen lassen sich auch theoretische Fragen zur Unterscheidung von Lahmheiten von Taktstörungen klären.

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Eingehen in die Bewegung im Schritt am langen Zügel ©www.Slawik.com

Pferdebesitzer:innen sind erste Instanz

Eigentlich sollte man jeden Tag prüfen, ob das eigene Pferd fit ist. Es fängt damit an, dass man das Pferd aus dem Stall oder von der Weide holt und bewusst seinen Blick, seine Körperhaltung und seinen Gang, wenn es neben einem läuft, wahrnimmt. Beim gründlichen und systematischen Putzen kann man neben Schwellungen, kleineren Verletzungen oder störenden Stichen auch mögliche Verspannungen in der Muskulatur aufspüren.

Beim Auskratzen der Hufe wird der Zustand der Barhufe oder der Sitz der Eisen überprüft. Auch beim Satteln und Auftrensen lohnt es sich, auf Signale des Pferdes zu achten. Abwehrbewegungen wie Ohrenanlegen, Zähneknirschen oder auch nur Sich-Wegdrehen können Indizien sein, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte.

Und beim Warmreiten im Schritt am langen Zügel hat man als Reiter:in die Möglichkeit, beim Eingehen auf die Bewegung zu erfühlen, ob die Hinterhand gleichmäßig vortritt – die eigenen Hüften also gleichmäßig nach links und rechts sinken und gleich weit nach vorne geschoben werden.

Wer frühzeitig erkennen kann, dass etwas im Argen liegen könnte, läuft nicht Gefahr, das Pferd zu überlasten und kann ein Problem auskurieren, bevor es eine Riesensache wird. „Die Reiter:innen sind die erste Instanz“, hält Veterinäring Katharina Paul fest, „wenn sie nicht erkennen, ob es ihrem Pferd gut geht, kann auch kein Tierarzt eingeschaltet werden.“