Immunokastration

Kastration: Spritze statt Skalpell?

Ein Artikel von Sven & Peggy Morell | 22.02.2024 - 18:44
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Ein kleiner Piks – und der Hengst ist nur noch ein halber Mann? Ob eine Immunkastration sinnvoll ist, muss individuell abgewägt werden.
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Hengste gelten als stark, schön, anmutig – und schwer händelbar. Besonders in der Nähe von rossigen Stuten vergessen sie mitunter ihr gutes Benehmen, was den Umgang mit ihnen problematisch machen kann. Sie gehören daher in die Hände von erfahrenen Pferdeprofis, die sich von allfälligen Hengstallüren nicht verunsichern lassen und die Pferdemänner konsequent den Weg vorgeben.
 

Problem: Artgerechte Haltung

Doch selbst wenn das Know-how vorhanden ist, stellt die Haltung Hengstbesitzer:innen oft vor große Probleme. Einstellen in einem Pensionsstall ist in der Regel nicht möglich, Hengste sind dort meist unerwünscht. Zu groß ist der organisatorische Aufwand: Die Hengste müssen getrennt von den Stuten gehalten werden und verstehen sich auch nicht mit jedem Wallach. Sie benötigen Extra-Koppeln, die zudem einen so ausbruchssicheren Zaun haben müssen, dass die Pferde-Machos diesen auch dann nicht überwinden können, wenn eine hübsche Stute vorbeiläuft. Gleichzeitiges Reiten mit anderen Pferden ist ebenfalls nicht immer unproblematisch. Es ist schon vorgekommen, dass Hengste in der Reitbahn auf eine rossige Stute aufgesprungen sind – ungeachtet dessen, dass darauf ein Reiter saß. Das ist für alle Beteiligten natürlich äußerst gefährlich.

Viele Reitställe lehnen Hengste deswegen entweder kategorisch ab – oder die Pferdemänner werden alles andere als artgerecht gehalten. Einzelboxen mit nur wenig oder gar keinem Auslauf und fehlende Sozialkontakte – das ist leider für viele Hengste Alltag. Dass diese dann im Umgang und beim Reiten schwierig sind, kann man ihnen eigentlich kaum verübeln. Aus diesen Gründen werden Hengste, sofern sie keine Zuchtkarriere anstreben, sondern ausschließlich als Reitpferd genutzt werden sollen, in der Regel kastriert.

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Vor allem im Umfeld rossiger Stuten sind viele Hengste stark (sexual)triebgesteuert - was durchaus zu Problemen im Händling führen kann.
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Gründe für eine Kastration

Kastrationen werden „in erster Linie auf Besitzerwunsch aufgrund der erschwerten Haltungsbedingungen von Hengsten durchgeführt“, so die Veterinärmedizinische Universität Wien (VUW). Es gebe aber auch medizinische Gründe, etwa wenn Tumore, Verletzungen oder eine Verdrehung der Hoden vorliegen. Auch ein Kryptorchismus – hier sind ein oder beide Hoden in der Bauchhöhle oder im Leistenkanal steckengeblieben und nicht wie üblich in den Hodensack gewandert – stellt eine medizinische Indikation dar. „Generell werden Hoden und Nebenhoden entfernt, der verbleibende Samenstrang unter sterilen Bedingungen abgebunden (ligiert) und dann je nach Methode die Wunden verschlossen oder offen gelassen. Je nach Alter, Hodengröße und Nachtherapiemöglichkeiten gibt es verschiedene Operationstechniken.“ (Vetmed Uni Wien)

Eine Kastration hat in der Regel zwei Ziele: Zum einen die Unfruchtbarkeit, zum anderen aber auch die Veränderung des Wesens. Durch die Entfernung der Hoden werden kaum noch männliche Geschlechtshormone gebildet, die Pferde sind ausgeglichener, interessieren sich weniger für Stuten und zeigen daher auch weniger Imponiergehabe. Es gibt auch die Möglichkeit der Sterilisation. Hierbei werden lediglich die Samenleiter durchtrennt, die Hoden bleiben erhalten. Diese Methode wird deutlich seltener angewandt, bei Kleinpferderassen kommt sie eher vor. Wesentlicher Unterschied: Die Hengste sind zwar unfruchtbar, Sexualhormone werden jedoch weitergebildet – was sich im Verhalten bemerkbar macht.

Die Kastration ist unwiderruflich, außerdem kann es wie bei jeder Operation zu Komplikationen kommen: Neben den allgemeinen OP- und Narkoserisiken treten mitunter Wundinfektionen, Nachblutungen oder gar gefährliche Darmvorfälle auf. Vor einigen Jahren fanden Wissenschaftler der VUW heraus, dass die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen durch eine Kastration im ersten oder zweiten Lebensjahr zumindest reduziert werden konnte.

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Wenig artgerechte Haltung: Einzelboxen mit nur wenig oder gar keinem Auslauf und fehlende Sozialkontakte – das ist leider für manche Hengste Alltag. © www.Slawik.com

Reversible „Kastration“

Das Prinzip der Immunokastration beruht auf der Blockierung des körpereigenen Gonadotropin-Releasing-Hormons, kurz GnRH. Dieses Hormon wird im Hypothalamus – einem Bereich des Zwischenhirns – hergestellt und regt die Produktion des Follikel-stimulierenden Hormons (FSH) sowie des luteinisierenden Hormons (LH) in der Hirnanhangdrüse an. Diese beiden Hormone bewirken unter anderem die Spermienbildung beziehungsweise die Reifung der Eizellen.

Bei der Immunokastration wird dem Pferd nun ein synthetisches, dem körpereigenen GnRH sehr ähnliches GnRH-Analog injiziert. Das Immunsystem erzeugt daraufhin Antikörper, die nicht nur an das fremde GnRH-Analog, sondern auch an das körpereigene GnRH andocken. Dieses wird wirkungslos, folglich werden FSH und LH nicht mehr gebildet – die Spermienproduktion wird reduziert beziehungsweise kommt sie bei einzelnen Hengsten vollständig zum Erliegen.


Equity® in Österreich nicht zugelassen

Von Immunisierung spricht man deshalb, weil durch die Verabreichung eine Antikörperbildung angeregt wird, ähnlich wie bei einer Impfung gegen Krankheitserreger. Christine Aurich, Leiterin der Plattform Besamung und Embryotransfer an der Veterinärmedizinischen Universität Wien: „Die Grundimmunisierung erfolgt durch eine zweimalige Impfung im Abstand von vier Wochen, danach wäre eine jeweils einmalige Nachimpfung in Sechs-Monats-Intervallen erforderlich.“

Das speziell für Pferde entwickelte Präparat Equity® hat keine Zulassung für Europa. „Es gibt aber stattdessen den auf demselben Wirkungsprinzip basierenden und für das Schwein zugelassenen GnRH-Impfstoff Improvac®, der für das Pferd umgewidmet werden kann“, erklärt Christine Aurich. Sie gibt aber zu bedenken: „Bei entsprechender Indikationsstellung ist eine solche Umwidmung auch in Österreich zulässig. Das ist natürlich eine Frage der Auslegung, aber es sind sowohl bei der Stuteals auch beim Hengst solche Indikationen denkbar. Allerdings erfordert das eine entsprechende Untersuchung und Indikationsstellung durch den Tierarzt. Eine Impfung des Hengstes alleine auf Wunsch des Besitzers ist sicher problematisch.“

Christine Aurich bescheinigt Improvac® zwar die gleiche Wirksamkeit, es ist „allerdings aufgrund einer etwas anderen Zusammensetzung beim Pferd etwas schlechter verträglich“. Problematisch bei beiden Präparaten: „Die Impfung sowohl mit Improvac® als auch mit Equity® kann zu starken lokalen Reaktionen an der Impfstelle sowie zu systemischen Auswirkungen (Fressunlust, Fieber) führen, die über mehrere Tage andauern können.“ Also ist die Immunkastration ebenfalls nicht frei von Nebenwirkungen, wenn auch die Operationsrisiken wegfallen.

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Das Imponierverhalten eines Hengstes kann durch die Immunokastration eingedämmt werden - muss aber nicht.
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Wirkung individuell

Eine erwünschte Nebenwirkung hingegen ist das Nachlassen des typischen Hengstverhaltens. Die Hengste sind dadurch besser kontrollierbar, weniger aggressiv und somit unproblematischer im täglichen Umgang. Eine im Jahr 2010 veröffentlichte Studie der Klinik für Fortpflanzungsmedizin der Universität Zürich zeigte eine deutliche Verbesserung des Verhaltens der behandelten Pferde: Neun der zehn Hengste fielen vor der Impfung unter anderem durch Widersetzlichkeit, Unrittigkeit und störendes Verhalten gegenüber Artgenossen beziehungsweise Menschen auf. Nach zweimaliger Verabreichung von Equity® zeigte lediglich noch ein Hengst Verhaltensauffälligkeiten. Doch es gibt einen großen Haken: „Die Behandlung zur Unterdrückung des Sexualverhaltens ist in vielen Ländern eindeutig dopingrelevant“, warnt Tierärztin Aurich.

Großer Vorteil der Immunokastration ist die vorübergehende Wirkung – im Gegensatz zu Sterilisation oder Kastration, die stets endgültig sind. Somit könnte die Immunokastration insbesondere bei Hengsten, die vorübergehend nicht im Zuchteinsatz stehen, als Möglichkeit in Erwägung gezogen werden. Doch Vorsicht: Die Wirkung ist sehr individuell. „Diese variiert zwischen einer vollständigen Infertilität (Unfruchtbarkeit) sowie Wegfall des Hengstverhaltens und einer erhaltenen Fertilität – die Samenproduktion wird etwas reduziert, aber es wird weiter Samen produziert – bei weitgehend ungestörtem Hengstverhalten“, erklärt Christine Aurich.

Leider ist auch nicht garantiert, dass die Fruchtbarkeit nach dem Absetzen des Mittels wirklich wieder zurückkommt. „Das ist sehr unterschiedlich und kann einige Monate bis mehrere Jahre dauern. Es gibt Berichte von Hengsten, die nach GnRH-Immunisierung ihre Fertilität (Fruchtbarkeit) lebenslang eingebüßt haben“. Laut der Veterinärmedizinerin sei die Wirkung zum Teil abhängig vom Alter – bei jüngeren Hengsten sei diese oft ausgeprägter und länger anhaltend.


Einsatz individuell abwägen

In bestimmten Fällen kann eine Immunokastration sicher sinnvoll sein, ein intensives Abwägen aller Vor- und Nachteile ist allerdings enorm wichtig. „Die Immunokastration ist eine effiziente Methode zur Unterdrückung der Reproduktionsfunktionen beim Pferd, wobei das Ausmaß der Wirkung aber recht variabel ist“, lautet das Fazit von Veterinärmedizinerin Christine Aurich. „Aus meiner Sicht ist die Immunokastration daher nur eine sehr bedingt taugliche Alternative für die chirurgische Kastration von Hengsten. Die Entwicklung anderer Verfahren für eine vorübergehende Kastration ist wünschenswert.“