LESEPROBE

Sternschnuppen am Dressurhimmel

Ein Artikel von Margarete Donner | 19.05.2022 - 12:56
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Noch nie waren Pferde so rittig wie heute. Seitengänge lassen sich spielerisch schon in jungen Jahren abrufen, durch die viel zitierte Leichtigkeit im Genick sind Anlehnungsprobleme scheinbar Geschichte.
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So schöne Pferde wie heute gab es noch nie“, ist Berufsreiter und Ausbilder Christoph Ackermann überzeugt. „Die Frage ist allerdings, ob die Zucht nicht über das Ziel hinausschießt.“ Die neue Generation von Dressurpferden begeistert das Publikum nicht nur durch spektakuläre Gangmechanik und hohe Beweglichkeit, auch die Rittigkeit wurde durch gezielte Zuchtprogramme enorm verbessert. Seitengänge lassen sich spielerisch schon in jungen Jahren abrufen, und durch die viel zitierte Leichtigkeit im Genick sind Anlehnungsprobleme scheinbar Geschichte.

Dressurreiterin Sonja Grossauer kennt die Szene schon seit vielen Jahren. Bei den Olympischen Spielen in Seoul im Jahr 1988 konnte sie als Pferdepflegerin Legenden wie Nicole Uphoffs Rembrandt oder Reiner Klimkes Ahlerich aus nächster Nähe beobachten. Im Vergleich zu damals seien moderne Dressurpferde weit besser von der Grundqualität und praktischer im Gebäude, ist Grossauer überzeugt. Diese Zuchterfolge müssen sich natürlich bezahlt machen – und die Anforderungen an die zukünftigen Stars sind keine geringen: Eine frühe Spezialisierung, Leistungsprüfungen im Stil von Dressurturnieren sowie die WM der jungen Dressurpferde sollen deren Qualität unter Beweis stellen und einen gewinnbringenden Verkauf sichern.

Jungpferde, die in den klassischen Reitlehren noch als Remonten galten, haben heute L- oder M-fertig zu sein. Denn durch erfolgreiche und publikumswirksame Auftritte steigt der Marktwert, nicht selten jedoch zu einem hohen Preis: Der noch nicht ausgereifte Bewegungsapparat hält den Belastungen nicht stand. „Die Leute zahlen die Preise, wenn die Tiere strampeln“, weiß Sonja Grossauer, „Allerdings sind manche dieser Modehengste bereits sechsjährig kaputt.“
 

Ein frühzeitiger Start

Weil der Turnierkalender keinen Aufschub duldet, wird die Kehrseite der glänzenden Medaillen meist ignoriert: Die Lehrjahre beginnen zu früh, der Bewegungsapparat ist zu instabil für die gerittenen Lektionen, und der Rahmen wird zu eng gesteckt. „Die ehemals normale Ausbildung über Jahre hinweg erzielt ein anderes Ergebnis als eine Schnellsiedeausbildung in sechs Monaten“, stellt Univ.- Prof. Theresia Licka unmissverständlich klar. Die Veterinärmedizinerin mit dem Schwerpunkt Orthopädie erinnert daran, dass die jungen Pferde früher nach dem ersten Anreiten nochmals für mehrere Monate auf die Koppel gingen. Kein Training ersetze einen regelmäßigen Koppelgang, wo beim Toben in der Herde Knochen und Bänder gekräftigt werden. „Wenn die Fohlen stundenlang auf den Hinterbeinen stehen, um Kräfte zu messen, stärkt das den ganzen Bewegungsapparat auf unnachahmliche Weise. Diese Körperbeherrschung fördert man nicht, indem man die Tiere in Watte packt“, so die Tierärztin.

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Fohlenaufzucht
Spielen stärkt die Knochen

Bocken, steigen, laufen, springen: Das ausgelassene Spiel der Fohlen macht nicht nur Spaß, es ist auch wichtig für die Knochenentwicklung.

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In Anbetracht des beachtlichen Preises wachsen jedoch viele Hoffnungen für das große Viereck wohlbehütet auf einem kleinen Paddock auf, etwaige Koppeln sind eben und bieten keinerlei Herausforderungen. Auch nach dem Anreiten werden die klassischen Grundsätze der Remontenausbildung kaum mehr berücksichtigt. Trainerlegende Major a. D. Paul Stecken beschreibt in seinem Buch „Bemerkungen und Zusammenhänge“, wie Nachwuchspferde in ihrem ersten Ausbildungsjahr vornehmlich mit lösenden Lektionen, Bodenrickarbeit und Geländetraining gymnastiziert wurden. Dieses Zeitfenster für eine schonende Heranführung an zukünftige Aufgaben hat der dicht getaktete Turnierplan nachhaltig geschlossen. Das beobachtet auch der international gefragte Physiotherapeut Stefan Stammer: „Die Tiere müssen auf der Lektionsebene wo sein, wo sie aufgrund der Athletik nicht sein können!“ Für ihn zählt der Faktor Zeit heute sogar noch mehr als früher, da Pferde mit enormer Gangqualität erst einmal lernen müssten, mit ihrem angeborenen Katapultsystem zurechtzukommen. „Von den Beinen kommen 500 PS, aber die Bewegung kann nicht in Rumpf und Oberhals übertragen werden“, erklärt Stammer. Daher sei die vorrangige Aufgabe im Jungpferdetraining, die Elemente der Kraftübertragung anstatt die der Kraftentwicklung zu stärken.
 

Das unrühmliche Ende

Hinzu kommt die große Verführung, ein leichtes Genick als willkommenes Geschenk bereitwillig anzunehmen. Wie Paul Stecken anmerkt, habe man im vergangenen Jahrhundert etwa ein Jahr gebraucht, bis das Pferd das Genick gerundet habe. Damals war „Nase hoch“ die Antwort auf eine Abwehrspannung im Rücken. An dieser anfänglichen Verspannung als Reaktion auf das ungewohnte Reitergewicht hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert. Nun lassen sich die Remonten dabei aber problemlos aufnehmen und neigen eher dazu, sich im Hals einzurollen. „Leider ist diese fehlerhafte und schädliche Haltung kompatibel mit der heutigen Dressur“, bedauert Dr. Gerd Heuschmann aus der Sicht des Tierarztes.

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Die heutigen Pferde neigen bei Unbehagen, fehlender Kraft und Balance eher dazu sich einzurollen als sich herauszuheben.
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Werden junge Pferde täglich eine Stunde auf Zug geritten, sei das für ihre körperliche Entwicklung eine Stunde zu viel. Die Wachstumsfugen der Wirbel sind in diesem Alter noch nicht geschlossen, die tragende Muskulatur kaum ausgebildet, und die unphysiologische Halshaltung führt zu Ermüdungserscheinungen. Weil es den Hebel des Halses noch nicht aus eigener Kraft tragen kann, knickt das Pferd zwischen dem zweiten und dritten Halswirbel – im sogenannten falschen Knick.

Mangelt es an Wissen und fachkundiger Begleitung, wird dieses Einrollen und Verkürzen des Halses fälschlicherweise als Anlehnung interpretiert. Ein fataler Trugschluss: Nichts in der Hand zu haben, ist definitiv kein Ziel guten Reitens. Eindringlich warnen die von uns befragten Tierärzt:innen und Physiotherapeut: innen davor, in den großen Gängen und dem flexiblen Genick eine Einladung zum vorzeitigen Durchstarten zu sehen. Werden gerade einmal Vierjährige im Rahmen eines Grand-Prix-Pferdes vorgestellt, sind die Folgen absehbar. Jede Abkürzung in der Ausbildung wird mit der Gesundheit der Tiere bezahlt.

Ganz oben auf der Liste der aktuellen klinischen Bilder scheinen Fesselträgerschäden auf. Schließlich bedarf es der Federung durch weiche Fesseln als Stoßdämpfer, um Pferde mit viel „Gummi“ überhaupt sitzen zu können. Neben Lahmheiten treten aber auch vermehrt Schäden an der Halswirbelsäule auf, Blockaden in Kiefer, Zungenbein oder Genick sowie in weiterer Folge irreparable Verschleißerscheinungen. Raketenhaft aufgestiegen, als Star von morgen zu einem teuren Preis gehandelt und dann frühzeitig von der Turnierbühne abgetreten, ist kein Einzelschicksal mehr. Nicht umsonst wandert statistisch der Zeitpunkt, zu dem ein Dressurpferd seinen höchsten Wert erzielt, immer weiter nach vorne. Wer mit drei Jahren die Beine schon schmeißt, was das Zeug hält, hält meist nicht lange durch.
 

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