Haltung

Pferde richtig anweiden: So geht‘s

Ein Artikel von Pamela Sladky | 23.03.2022 - 16:20
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15 bis 20 cm sollte das Gras zum Zeitpunkt des Anweidens mindestens messen. Kürzeres Gras ist nicht nur für die Pferde nicht gesund, eine zu frühe Beweigung schadet auch den Pflanzen nachhaltig.
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Zwar hat sich inzwischen allgemein herumgesprochen, dass Pferde nach dem Winter langsam auf das frische Grün umgestellt werden sollten, um gesundheitliche Probleme wie Durchfall, Koliken oder Hufrehe zu vermeiden. Wie dieser Umstieg im Idealfall vonstattengehen sollte, darüber gehen die Meinungen jedoch auseinander – und in manchen Fällen könnten sie gar nicht weiter entfernt voneinander liegen. Während die einen bereits im Februar damit beginnen, ihre Pferde das erste zaghafte Grün naschen zu lassen, dürfen die Vierbeiner anderer vor Juni überhaupt keinen Huf aufs Gras setzen. Und danach? Tägliches Steigern in Fünf-Minuten-Intervallen, oder gar noch langsamer? Oder ist das völlig übertrieben und die Pferde können innerhalb kürzester Zeit den ganzen Tag auf der Weide verbringen?

Dr. Christina Fritz, Biologin und Pferdetherapeutin aus Berlin kennt diese Fragen nur zu gut. Allgemeingültige Antworten hat die Expertin für Pferdefütterung aber nicht. Und die kann es auch nicht geben denn: „Wann und wie man anweidet hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab“, weiß Dr. Fritz.

Einer dieser Faktoren sind die örtlichen Gegebenheiten. „In Tallagen entwickelt sich die Natur ganz anders als auf 1.300 Metern, wo alles ein paar Wochen später dran ist. Deshalb muss man sich immer genau ansehen, wie es um den Grasaufwuchs in der Region, in der das Pferd steht, bestellt ist“, erklärt Dr. Fritz. Neben der allgemeinen Lage spielt da auch das Klima mit hinein. Je mehr Regen es im Frühjahr gibt, desto schneller wächst das Gras. Nach wochenlanger Trockenheit wird selbst bei schönstem Wetter kaum ein vernünftiger Aufwuchs zustande kommen, es fehlt schlicht das nötige Wasser. „Deshalb bringt es auch nichts, wenn man pauschal sagt, man weidet am 7. April an, wenn zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts auf den Weiden steht“, erklärt Dr. Fritz.

Wann der Startschuss für die Weidesaison fällt, hängt deshalb zu einem Großteil vom Zustand der jeweiligen Weideflächen ab. Als Faustregel gilt: „Die untersten zehn Zentimeter gehören der Pflanze. Solange das Gras noch nicht über diese Marke hinausgewachsen ist, sollte man nicht ernsthaft über ein Anweiden nachdenken.“ Was man freilich bereits machen kann: Beim Spazierengehen das Pferd immer mal für ein paar Bissen am Grün naschen lassen. „Das ist in Ordnung. Aber die Weide sollte zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch ihre Ruhe haben, bis mindestens 15 bis 20 Zentimeter Aufwuchs stehen. Ansonsten ist es nicht gesund für die Pferde und es schädigt auch nachhaltig die Pflanzen“, mahnt die Expertin.

Was unsere Großväter schon wussten

Gerade im Frühjahr – aber auch im Herbst – spielt die Tageszeit eine nicht unwesentliche Rolle, ob Pferde auf der Weide gefahrlos grasen oder nicht. Besonders brisant ist die Kombination aus kalten Nächsten und warmen, sonnigen Tagen. In dieser Zeit ist der Fruktangehalt besonders hoch. Fruktan gilt für Pferde als Problemstoff, weil er in Kombination mit Milchsäurebakterien im Dickdarm Hufrehe auslösen kann. Warum, erklärt Dr. Christina Fritz so: „Fruktan ist ein Speicherkohlehydrat. Wenn tagsüber die Sonne scheint, betreibt die Pflanze fleißig Photosynthese und bildet Zucker. In der Nacht wird der Zucker in Strukturkohlehydrate umgewandelt und die Pflanze wächst. Bei Temperaturen unter zehn Grad kann die Pflanze aber nicht wachsen. Der gebildete aber nicht gleich verwertbare Zucker wird vorübergehend in Fruktan umgewandelt und gespeichert. Sobald es warm ist, kann das Gras auf diese Fruktanreserve zurückgreifen und sie für das Wachstum verwenden. Schon unsere Großväter wussten: Morgens sollen die Pferde nicht aufs gefrorene Gras. Man hat bis zum Mittag gewartet, bis man sie auf die Weide ließ. Heute kennen wir die wissenschaftliche Erklärung dafür. Bis zum Mittag ist das Fruktan unter Sonneneinstrahlung wieder abgebaut, der Zucker wird in Pflanzenwachstum umgesetzt, die Pflanze produziert neuen Zucker, den es abends, wenn die Temperaturen wieder sinken, erneut in Fruktan umwandelt. Nach kalten Nächten und an sonnigen Tagen im Frühjahr und Herbst sollte man die Pferde deshalb immer erst am Nachmittag auf die Wiese stellen, weil dann die Fruktanwerte am niedrigsten sind und damit auch das Hufreherisiko. 

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Sportlich genutzte Warm- und Vollblüter vertragen ein rascheres Anweiden oft relativ problemlos, weil sie den mit dem Gras aufgenommenen Zucker besser kompensieren. 
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Anweidetempo individuell bestimmen

Auch auf die Frage, in welchen Schritten man die Zeit auf der Weide am besten steigert, gibt es für Dr. Fritz keine Pauschalantwort. „Das hängt ganz stark vom Pferdetyp und der Arbeitsleistung ab“, erklärt sie. Warm- oder Vollblüter, die im Sport laufen, entsprechend gearbeitet werden und viel Energie verbrauchen, kann man beispielsweise deutlich schneller länger auf dem Gras lassen, als wenig beanspruchte Robustrassen. „Es gibt genügend Ställe, die fangen mit 15 Minuten an, steigern am Folgetag auf 30 Minuten, dann auf eine Stunde, zwei Stunden, sodass der Anweideprozess innerhalb von nur zwei Wochen abgeschlossen ist. Und die Pferde stecken das auch gut weg. Aber in der Regel handelt es sich dabei um Warm- und Vollblutpferde, die per se schon einen anderen Stoffwechsel haben und hohe Zuckergehalte besser kompensieren können. Diese Pferde werden sportlich gearbeitet, haben einen hohen Energiebedarf und verbrauchen diesen Zucker, den sie mit der Weide aufnehmen, auch entsprechend.“

Anders sieht die Sache beim klassischen Freizeitpferd aus. „Wenn man einen Haflinger im Stall stehen hat, einen Noriker, einen Tinker, einen Araber und vielleicht noch einen Spanier, dann sollte man von einem solchen Procedere tunlichst die Finger lassen“, warnt Christina Fritz. Hier sei eine langsame Herangehensweise gefragt. Und langsamer bedeutet für Dr. Fritz in diesem Fall ein Vorantasten in Fünf-Minuten-Schritten mit einem sorgfältigen Blick auf den körperlichen Zustand aller Pferde. „Solange keines grünlichen Durchfall entwickelt oder mit warmen Hufen in den Stall kommt, kann man die Weidezeit täglich um fünf Minuten steigern. Andernfalls muss man wieder einen Schritt zurückgehen.“  Viele Pferde würden heute zumindest unterschwellig unter Stoffwechselproblemen leiden. Ein überhasteter Anweideprozess ist dann oft der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und der Entstehung von Hufrehe Tür und Tor öffnet. 

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Pferde, die zu Hufrehe neigen, sollten in der Zeit des Anweidens einen Fressmaulkorb tragen.
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Schnelle Fresser

Fünf Minuten hört sich erstmal natürlich sehr wenig an. Was vielen jedoch nicht klar ist: Pferde können auch in relativ kurzer Zeit erhebliche Mengen an Gras zu sich nehmen. „Wenn man die Pferde nur kurz auf die Weide stellt, steigern sie ihre Fressgeschwindigkeit und können in derselben Zeit die vierfache Menge Futter aufnehmen. In einer halben Stunde fressen sie unter Umständen so viel Gras, wie sie sonst in zwei Stunden zu sich nehmen würden.“

Gerade bei leichtfuttrigen, wenig gearbeiteten Kandidaten ist kleinschrittiges Anweiden deshalb die beste Methode, um einer gefährlichen Entgleisung des Stoffwechsels vorzubeugen. Bei hufrehegefährdeten Pferde rät Dr. Fritz außerdem zu einer Fressbremse, die die Grasaufnahme zusätzlich einschränkt.


Bitter bringt‘s

Trotz aller Vorsicht fällt die Umstellung vom mehrheitlich trockenen Winterfutter auf das saftige Futter des Sommerhalbjahres manchen Pferden einfach schwer. In solchen Fällen leisten Bitterkräuter gute Dienste. „Alles was bei den Kräutern aus der Bitter- und Gerbstoffecke kommt, stabilisiert den Darm und hilft, dass es nicht so leicht zu Fehlgärungsprozessen kommen kann“, weiß Dr. Fritz. Sie rät in den ersten vier bis sechs Wochen der Weidesaison zur Zufütterung einer Bitterkräutermischung. „Damit kann man das Risiko für Durchfall und fehlgärungsbedingter Hufrehe auf einfache Art und Weise senken.“ Eine Garantie, dass alles in geregelten Bahnen läuft, geben zwar auch Bitterkräuter nicht, „aber man macht es den Pferden ein bisschen leichter.“

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© privat

Zur Person

Dr. rer. nat. Christina Fritz schloss ihr Studium der Biologie ab mit einer Promotion im Themenbereich Stoffwechsel. Seit 2004 führt sie eine Praxis für integrierte Pferdetherapie und teilt ihr Wissen und ihre Erfahrung über wissen.sanoanimal.de mit der Pferdewelt.