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Viele Tierärztinnen und Tierärzte von Selbstmordgedanken geplagt

Ein Artikel von Pamela Sladky | 14.01.2022 - 14:07
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Albtraumjob statt Traumberuf? Tierärzt:innen haben ein erhöhtes Suizidrisiko. (Symbolfoto)
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Drei von zehn Tierärzt:innen in Norwegen waren im vergangenen Jahr der Meinung, dass das Leben nicht lebenswert sei. Jede/r zwanzigste hatte ernsthafte Selbstmordgedanken, eine/r von fünfhundert versuchte sogar, sich das Leben zu nehmen. Dies sind die erschütternden Ergebnisse einer Umfrage, an der fast drei Viertel der 3700 norwegischen Tierärzte teilgenommen haben. Die Studie wurde von Helene Seljenes Dalum von der Abteilung für Verhaltensmedizin an der Universität Oslo durchgeführt und kürzlich in BMJ Open veröffentlicht.

„Das sind besorgniserregende Daten, zumal eine frühere Studie gezeigt hat, dass die Selbstmordrate unter Tierärzten in Norwegen etwa doppelt so hoch war wie die der allgemeinen Bevölkerung“, sagt Dalum.
 

Tierärzte arbeiten oft allein und tragen viel Verantwortung

Helene Seljenes Dalum ist selbst ausgebildete Tierärztin und kennt die Probleme, mit denen sich ihr Berufsstand herumschlägt, ganz genau. „Viele von uns stehen unter großem Arbeitsdruck, werden oft schlecht bezahlt und das Einschläfern von Tieren steht an der Tagesordnung. Meist fehlen Kollegen, die mit Rat und Tat zur Seite stehen. Im Gegensatz zu Ärztinnen und Ärzten, die nach Abschluss ihres Studiums 18 Monate lang unter Aufsicht Medizin praktizieren, haben einige Kolleg:innen das Gefühl, dass sie während ihres Studiums nicht genügend Erfahrungen für die Praxis sammeln konnten. Der Übergang ins Berufsleben fällt ihnen schwer“, sagt sie.

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Studienleiterin Helene Seljenes Dalum ist selbst Tierärztin und kennt die Probleme, die ihre Kolleginnen belasten, genau.
© UiO

Finden Ärzte im Krankenhaus möglicherweise Rückhalt beim Management, wenn Fehler gemacht werden, tragen selbständige Tierärzt:innen die alleinige Verantwortung. Auch der stets präsente Umgang mit dem Tod ist etwas, das viele Veterinär:innen mehr belastet, als sie zugeben möchten. Hinzu kommen Anfeindungen in sozialen Medien – und nicht nur dort. Ein Problem, das zusehends an Bedeutung gewinnt.

Medizinischer Fortschritt in der Veterinärmedizin

In den vergangenen 20 Jahren wurden große medizinische Fortschritte erzielt. Immer mehr Tiere können heute behandelt werden und müssen nicht mehr euthanasiert werden, wie es früher der einzige Ausweg war, wollte man dem Tier weiteres Leid zu ersparen. Doch eine Behandlung kostet Geld. Und das oft nicht zu knapp. Je nach Schweregrad des Problems fallen Tierarztkosten in Höhe von mehreren Tausend Euro an.

Wer in Norwegen seinen Hausarzt konsultiert, der zahlt einen kleinen Selbstbehalt für dessen Leistungen. Bei Tierärzt:innen sieht die Sache anders aus. Weil Tiere keine Steuern zahlen, müssen ihre Besitzer:innen die Kosten in vollem Umfang tragen. Nicht selten herrscht bei Tierhalter:innen Unverständnis über die Höhe der Tierarztrechnung. „Viele Tierhalter haben das Gefühl, dass Behandlungen beim Tierarzt teuer sind. Sie verstehen nicht, wie kostspielig es ist, eine Tierarztpraxis zu führen, die keine staatlichen Subventionen erhält“, weiß Dalum. Schwierige Diskussionen mit Kund:innen über die Höhe der Behandlungskosten seien für viele Kolleg:innen deshalb längst Teil ihres Alltages.

Der Tod – ein ständiger Begleiter

Im Zuge der Umfrage wurden die Teilnehmer:innen auch zu negativen Ereignissen in ihrem Leben befragt um möglichen alternative Gründe für etwaige Suizidgedanken aufzudecken. Finanzielle Probleme wurden hier am häufigsten genannt, gefolgt von Alleinsein, Angst und Depression. Inwieweit auch der routinemäßige Umgang mit Euthanasie Einfluss auf den psychischen Zustand der Veterinär:innen hat, sei eine Frage, die noch näher untersucht werden müsse, meint Dalum. „Es stellt sich die Frage, ob Tierärzte davon beeinflusst werden, dass sie routinemäßig Euthanasie als die richtige Lösung verteidigen müssen, wenn die Lebensqualität eines Tieres schlecht ist. Senkt das die Hemmschwelle, sich das Leben zu nehmen? Auf der anderen Seite sehen Tierärzte auch die Auswirkungen, die das Einschläfern eines Tieres auf dessen Besitzer, die den Verlust ihres Gefährten zutiefst betrauern, hat. Wir müssen zu dieser speziellen Frage mehr Forschung betreiben."

Dalums Arbeit ist die erste, die das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit norwegischer Tierärzten untersuchte. Die Ergebnisse machen deutlich, dass dringend Handlungsbedarf besteht. „Bislang wurde zu wenig darauf geachtet, wie man in den Beruf des Tierarztes hineinwächst und wie man kommuniziert. Tierärzte müssen viele emotional belastende Situationen mit Patienten bewältigen, Tierhalter betrachten ihr Haustier als Familienmitglied“, weiß die junge Forscherin, die hofft, dass ihre Studie das Bewusstsein für die psychische Gesundheit von Tierärztinnen und Tierärzten schärft. Immerhin: Ein erster Schritt, die Probleme des Veterinärberufs in Norwegen in den Griff zu bekommen, ist bereits getan. Die Themen Kommunikation und psychische Gesundheit haben inzwischen den Weg in den Lehrplan der Veterinärmedizin gefunden.

Weltweites Problem

Dass norwegische Tierärzt:innen mit ihren Problemen nicht alleine dastehen, zeigen zahlreiche Studien aus anderen Ländern, die im Vergleich zu anderen Berufsgruppen für Tierärzte höhere Raten bei Depressionen, Suizidgedanken und vollendeten Suiziden berichteten. So zeigte etwa eine im Jahr 2016 unter deutschen Tierärztinnen und Tierärzten durchgeführte Umfrage auf, dass Tierärzte im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung in Deutschland eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit für Depressionen und ein fünfmal höheres Suizidrisiko haben.