MIST, LÄRM, AUSBEUTUNG

Eine Stadt voller Pferde

Ein Artikel von Redaktion | 21.11.2022 - 18:04
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Dampfende Pferde ziehen eine Pferdeeisenbahn durch die Straßen New Yorks an einem kalten Wintertag
© Alfred Stieglitz

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie es in einer Stadt voller Pferde tatsächlich zugehen würde, bietet sich ein Blick zurück ins späte 19. Jahrhundert an. Damals waren Pferde das Haupttransportmittel für Menschen und Waren. Besonders in Städten führte das zu Problemen, die man sich heute kaum vorstellen kann.

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Dichtes Gedränge, dicke Luft und ein Höllenlärm: eine New Yorker Straße gegen Ende des 19. Jahrhunderts © Public Housing Administration

In London lebten zu dieser Zeit etwa 50.000 Pferde, in New York waren es sogar rund 170.000. Auch in Wien gab es Pferde soweit das Auge reichte. Um 1900 sollen es an die 40.000 gewesen sein. Die beschlagenen Hufe, die ratternden Räder von Kutschen und Transportwagen verursachten einen Höllenlärm – von den ersten Sonnenstrahlen an bis spät in die Nacht. Keine Spur von idyllischer Stille.

Mistproblem

Ein weitaus größeres Problem als die ohrenbetäubende Geräuschkulisse war allerdings das, was die Vierbeiner während ihrer Arbeit auf den Straßen hinterließen. Ausgewachsene Pferde produzieren am Tag zwischen 10 und 30 Kilogramm Mist, an Urin fallen pro Pferd und Tag zwischen 5 und 15 Liter an. Beides mal 40.000, 50.000 oder gar 170.000 gerechnet ergibt: Berge von Pferdeäpfeln und ganze Bäche an Urin.

Die pferdigen Hinterlassenschaften verursachten einen infernalischen Gestank und waren ein gefundenes Fressen für Millionen- und Abermillionen Fliegen. Und die wiederum halfen kräftig mit bei der Verbreitung gefährlicher Krankheiten wie Typhus.

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Viele Pferde, viel Mist: In manchen Gegenden türmte er sich meterhoch auf.Außerhalb der Städt wurden riesige Flächen für die Lagerung angelegt.
© Public Housing Administration

Weil der Mist gar nicht so schnell abtransportiert werden konnte, wie er von den Pferden produziert wurde, wuchsen in den Straßen regelrechte Mistberge, die mancherorts meterhoch in die Luft ragten. Dazwischen drängten sich Fußgänger, Reiter, einige feine Kutschen, die von temperamentvollen, teuren Pferden gezogen wurden, vor allem aber einfache Arbeitspferde, die schwer beladene Karren mit Waren aller Art durch die Stadt zogen.

Einige Städte versuchten, die Kosten für die Straßenreinigung zu decken, indem sie den Mist als Dünger verkauften. Die News York Das gelang aber nur den wenigsten und auch nur vorübergehend, denn das Angebot an Mist überstieg die Nachfrage bei weitem. So blieben vielerorts die Pferdeäpfel dort, wo sie fallengelassen wurden. Das Problem spitzte sich immer mehr zu, 1894 prophezeihte die "Times", dass  "in 50 Jahren jede Straße in London unter einer neun Fuß (2,7 Meter Anm.:) dicken Schicht Mist begraben sein wird.” Zu diesem Zeitpunkt wurde  


Leben und Leiden eines Stadtpferdes

Auch für die Pferde selbst war das Leben in der Stadt nicht gerade ein Zuckerschlecken. Die Tiere arbeiteten schwer und viele Stunden, außerhalb ihres Dienstes standen sie dicht gedrängt in dunklen, schmutzigen und schlecht gelüfteten Ställen, angebunden in engen Ständen. Gefüttert wurde gerade genug, dass die Pferde arbeiten konnten. Um so viele Tiere versorgen zu können, wurden Unmengen an Heu und Getreide benötigt. In New York City soll die durchschnittliche Lebensdauer eines Pferdes gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerade einmal zweieinhalb Jahre betragen haben. Viele starben einfach während der Arbeit. Die toten Tiere ließ man auf der Straße liegen, bis sie Tage, manchmal auch Wochen später weggeschafft wurden. Berichten aus der damaligen Zeit zuvolge sollen 1880 15.000 tote Pferde aus den New Yorker Straßen entfernt worden sein.

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Trauriges Ende: Viele Pferde starben bei der Arbeit.

Rettung auf vier Rädern

Die Lösung des weltweiten Städteproblems brachte eine Erfindung, die kein Heu und kein Getreide fraß und auch keine Pferdeäpfel produzierte: das Auto. Je populärer es wurde, desto mehr ging die Zahl der Pferde in den Städten zurück. Die Straßen wurden sauberer, die Luftverschmutzung durch zerriebenen Mist und scharfe Dämpfe nahm ab, und auch die Krankheitsfälle konnten reduziert werden, weil die Zahl der Fliegen aufgrund des fehlenden Mists stark abnahm. Überall wurde das Automobil als sauberes, leises und kostengünstiges Transportmittel gefeiert. Wie sehr sich die Zeiten doch ändern ...