Verhalten

Warum manche Pferde mit Bewegungslosigkeit statt mit Flucht reagieren – und wie man damit umgeht

Ein Artikel von Pamela Sladky | 09.06.2021 - 15:18
AdobeStock_165195946.jpg

Bei Pferden, die in Stesssituationen mit Bewegungslosigkeit reagieren, hilft ziehen meist wenig.   ©oktopusss - stock.adobe.com

Manche Pferde haben sie geradezu perfektioniert: die Vierbeinbremse. Sie rammen alle vier Hufe in den Boden und sind durch nichts und niemanden weiterzubewegen – weder vom Sattel noch vom Boden aus. Für den Menschen ist diese Situation zunächst einmal vor allem lästig. Ein erstarrtes Pferd im falschen Augenblick kann allerdings auch zur Gefahr werden. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere.

Einem Islandpferd aus Schleswig-Holstein wurde die konsequente Weigerung sich zu bewegen zum Verhängnis. Auf einem Bahnübergang entschloss es sich stehen zu bleiben und keinen Schritt mehr zu tun. Selbst als das Warnsignal einsetzte und sich die Schranken schlossen, konnte das Pferd von seiner Reiterin nicht zum Weitergehen bewegt werden. Das Szenario, das sich danach abspielte, ist wohl der Albtraum eines jeden Pferdemenschen: Ein herannahender Zug kam nicht mehr rechtzeitig zum Stehen und erfasste das Pferd. Letzteres erlag seinen Verletzungen noch ander Unfallstelle.

Angesichts eines solchen Vorfalles stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass ein Pferd, ein ausgewiesenes Fluchttier, bei einer herannahenden Gefahr nicht davonläuft, sondern einfach stehen bleibt?

„Bei Pferden gibt es unterschiedliche Stressbewältigungssysteme“, erklärt Marlitt Wendt, Verhaltensbiologin aus Großhansdorf nahe Hamburg. „Da sind zum einen die reaktiven Pferde, z. B. Vollblüter, die bei Stress mit sehr viel Aufregung und sehr viel Bewegung reagieren. Ihre Strategie in solchen Situationen ist die Flucht nach vorne“, beschreibt Wendt das klassische Szenario, das man als Pferdemensch gewohnt ist – und deshalb auch erwartet. Doch nicht jedes Pferd sucht sein Heil im Davonlaufen. „Der passive oder introvertierte Stresstyp reagiert hingegen mit der sogenannten ‚Freeze-Strategie‘: Er friert in seinen Bewegungen ein und zieht sich in sein Schneckenhaus zurück. Gerade Kaltblüter und viele Robustpferderassen warten oft lieber erst mal ab.“

Dass sich diese Strategie nicht in jeder Situation anbietet, liegt auf der Hand. Bei der Begegnung mit einem Wolf auf Beutezug wird selbst ein stoischer Pferdetyp vermutlich eher die Hufe schwingen als zur Salzsäule erstarren. Aber es gibt durchaus Fälle, in denen die Freeze-Taktik ein Pferd vor Schaden bewahren kann. „Gerade in Gegenden, in denen es keine Fressfeinde mehr gibt, ist das eine sehr häufige Strategie mit unangenehmen aber auch mit unbekannten und schlecht einschätzbaren Situationen umzugehen. Auch in gebirgigen Landstrichen ist es von Vorteil nicht wegen jeder Kleinigkeit in Panik zu geraten. Das kann ein Pferd schon mal davor bewahren in Eis einzubrechen oder in eine Gletscherspalte zu stürzen. Erst mal stehen zu bleiben und abzuwarten hat sich für Rassen wie das Islandpferd durchaus als hilfreich erwiesen.“


Von starr zu mobil

Doch was kann man tun, um ein erstarrtes Pferd wieder in Gang zu bringen? In ihrer ersten Reaktion erhöhen die meisten Menschen den Druck. Sei es über vermehrtes Treiben, sofern man im Sattel sitzt, oder durch Ziehen, wenn man sich selbst auf den Boden befindet. Danach folgt meist der Griff zur Gerte, um ein unbewegliches Pferd in Gang zu bringen. Laut Marlitt Wendt verfehlt mehr Druck gerade beim introvertierten Stresstyp allerdings häufig sein Ziel. „Solche Pferde reagieren auf Druck mit zunehmender Passivität und bleiben dann erst recht wie angewurzelt stehen. Je mehr man in Stress oder gar Panik gerät, umso mehr fördert man dieses Verhalten, denn die Pferde sehen sich in ihrer Reaktion bestätigt“, so Wendt.

Hilfreich kann stattdessen der Griff zum Leckerli sein, weiß die Verhaltensbiologin und Pferdetrainerin. „Stoische Pferde reagieren meist besser auf Locken. Mit Futterlob kann man das Muster eher durchbrechen.“ Das kann funktionieren, muss aber nicht und ist gerade in gefährlichen Momenten, in denen schnelles Handeln gefragt ist, nicht eben leicht umzusetzen. Wenn es rasch gehen muss, bleibt oft nur noch das Pferd durch starkes Abbiegen im Hals, Abwenden oder durch Druck auf die Schulter aus seiner Balance zu bringen und so in Gang zu setzen. Das Gleichgewicht des Pferdes ist zur Seite hin deutlich leichter beeinflussbar, der Weg zur Seite deshalb oft der Einfachere als der direkte nach vorne. „Abwenden hilft oft das Pferd überhaupt wieder ansprechbar zu machen. Bei Stoikern hat sich das als gute Strategie erwiesen.“

Was die Vierbeinbremse beim festgefrorenen Pferd tatsächlich löst, bleibt letztlich von Pferd zu Pferd verschieden. Regelmäßiges Training hilft der Reiterin dabei, ihr Pferd besser einschätzen zu können und im Fall des Falles die richtigen Knöpfe zu kennen und entsprechend zu bedienen. Und dem Pferd Alternativen zu seinem instinktiven Verhalten zu finden. Zumindest in dieser Hinsicht unterscheidet sich der Stoiker dann doch nicht so sehr von seinem davonrennenden Kollegen.