Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade“ – kaum ein Satz aus einem Lehrbuch wurde so gründlich missverstanden wie dieser Ausspruch des großen deutschen Ausbilders Gustav Steinbrecht (1808–1885), niedergeschrieben in seinem berühmten Werk „Das Gymnasium des Pferdes“. Vor allem der Teil zum Thema „vorwärts“ scheint für manchen Reiter/Ausbildner ein Freibrief für „Gas geben!“ zu sein, besonders im Trab. Dabei hat Steinbrecht sicher nicht ein Vorwärtstreiben des Pferdes in möglichst eiligen und gestreckten Gangarten gemeint, sondern vielmehr „… die Sorge des Reiters, bei allen Übungen die Schubkraft der Hinterhand in Tätigkeit zu erhalten, dergestalt, dass nicht nur bei den Lektionen auf der Stelle, sondern sogar bei Rückwärtsbewegungen das Vorwärts, nämlich das Bestreben, die Last vorwärts zu bewegen, in Wirksamkeit bleibt.“
Was in der Sprache des 19. Jahrhunderts etwas holprig klingt, heißt aber nichts anderes, als dass beim Pferd der schiebende Vorwärtsimpuls aus der Hinterhand in Richtung Schwerpunkt immer erhalten bleiben soll – ganz gleich in welchem Tempo. Und Tempo ist beim Reiten nicht mit Geschwindigkeit gleichzusetzen. Es ist vielmehr ein Gangmaß, das, vom Arbeitstempo ausgehend, in beide Richtungen reicht: in die Verstärkungen und in die Versammlung. Ganz gleich, ob in höchstmöglicher Rahmen- und Gangmaßerweiterung im starken Schritt, Trab oder Galopp oder im höchsten Versammlungsgrad in der Piaffe oder Pirouette – das Vorwärts sollte immer da sein, mal prominent, mal latent.
Dabei ist das passende Grundtempo für jedes Pferd unterschiedlich und kann je nach Pferdetyp, Größe und Temperament sowie Bewegungsablauf, -qualität und -frequenz sehr variieren. Ein Vollblutpferd hat einen anderen Bewegungsablauf als ein Friese, ein im modernen Dressurpferdetyp stehendes Warmblutpferd bewegt sich anders als ein Andalusier und ein Shetlandpony anders als ein Großpferd. Selbst das Alter eines Pferdes und sein Ausbildungsstand haben Einfluss auf das Tempo und auf die Antwort zur Frage „Wie viel Vorwärts ist richtig?“.
Nur das richtige Maß hält gesund
Was aber passiert, wenn das Tempo nicht stimmt? Überhöhtes Tempo führt zu eiligen Bewegungsabläufen – und damit zu Gleichgewichtsverlust. Im Bestreben, das vom Reiter geforderte Tempo zu erfüllen, kann sich das Pferd nur muskulär verspannen und mit schnellen Schritten, Tritten und manchmal auch Sprüngen reagieren. Das, was der Reiter meint, mit einem forcierten Vorwärts erreichen zu können, nämlich eine Verbesserung des Schubes der Hinterhand, verkehrt sich ins Gegenteil: Die Hinterbeine haben nicht mehr genügend Zeit, weit vorzufußen, sondern müssen schnell wieder auffußen. Dadurch gerät das Pferd – früher oder später – mehr und mehr auf die Vorhand.
Ein mattes Dahinschlurfen, also ein zu wenig an Vorwärts, ist fürs Pferd aber mindestens genauso schädlich. Denn hierbei kommt es nicht zur erforderlichen positiven Muskelspannung und damit auch nicht zu vermehrter (und damit entlastender) Federkraft. In der Folge kommt das Pferd auch hierbei auf die Vorhand, sein Rücken hängt durch, und jede Bewegung unterm Reitergewicht belastet vermehrt die Wirbelsäule und die Gelenke der Extremitäten.
Unterm Tempo gerittenen Pferden fehlt die positive Körperspannung, sie kommen auf die Vorhand. © www.slawik.com
Ein Selbsttest hilft beim Verstehen: Schnallen Sie sich einen Rucksack (mit Inhalt) auf den Rücken und joggen Sie in Ihrem gewohnten Wohlfühltempo locker los. Mit dem entsprechenden Trainingsniveau laufen Sie trotz zusätzlichen Gewichts vermutlich nicht viel schlechter als sonst. Am nächsten Tag laufen Sie – wieder bepackt mit dem Rucksack – die gleiche Strecke mal so schnell Sie können. Außer Atem bemerken Sie wahrscheinlich, dass Sie viel mehr und viel kürzere Schritte gemacht haben und dass vermutlich Ihre Muskeln schmerzen, vor allem auch im Bereich des Rucksacks. Am folgenden Tag dürfen Sie die Strecke mal ganz langsam laufen, Schritt für Schritt quasi in Zeitlupe. Angenehmer? Sicher nicht. Die Beine werden schwerer, der Rucksack ebenso. Das Laufen in Zeitlupe erfordert nämlich mehr Tragkraft, über die Sie vermutlich (noch) gar nicht verfügen.
Ähnlich ist auch das richtige Maß an Vorwärts für die Arbeit mit dem Pferd wichtig. Bewegt sich ein Pferd immer über oder aber auch unter seinem Tempo, kann es sein Gleichgewicht nicht finden, seine Hinterbeine können nicht im erforderlichen Maß unter den Schwerpunkt arbeiten und somit sein Rücken nicht zum Schwingen kommen. Das Bild einer Kinderschaukel verdeutlicht vielleicht den Zusammenhang von Tempo und Bewegung: Um die Schaukel zum Schwingen bringen und im Schwingen halten zu können, sind hin und wieder kleine Impulse notwendig. Bleiben die Impulse aus, wird die Schaukel zum Stillstand kommen. Gibt es zu viele Impulse, will ich also schneller und schneller schaukeln, wird die Schwingung ebenfalls irgendwann ausbleiben. Eine Schwingung aufzubauen und zu erhalten ist also eher eine Frage der richtigen Dosierung von Impulsen als eine Frage von dauerhaft schnell oder langsam.
Das eigene Gefühl schulen
Woran aber erkennt man, ob man sein Pferd im richtigen Tempo reitet? Man also weder zu flott oder im Gegenteil zu langsam unterwegs ist? Wie findet man heraus, welches Tempo für sein Pferd überhaupt optimal ist?
Zunächst kann sich der Reiter ganz gut am Arbeitstrab orientieren, um das eigene Tempogefühl zu schulen. Der Arbeitstrab sollte so frisch geritten werden, dass das Pferd etwas über die Hufspur seiner Vorderhufe fußt. Bei einem großrahmigen Warmblutpferd wird das mehr sein als bei einem kurzbeinigen Kleinpferd – aber auch letzteres sollte im Arbeitstrab im Rahmen seiner Möglichkeiten übertreten. Fußt das bewegungsstarke Warmblutpferd allerdings bereits drei, vier Hufspuren über, ist sein Tempo vermutlich zu hoch. Hier sollte etwas ruhiger und weniger „verkaufsorientiert“ getrabt werden.
Manche Pferde tun ihrem Reiter sogar einen Gefallen und zeigen recht schnell, dass ihnen das vorgegebene Tempo nicht passt: Wird zu schnell geritten, „verlieren sie die Füße“ und kommen aus der Balance, zackeln im Schritt an, machen Taktfehler im Trab oder kommen im Galopp auf die Vorhand. Wird dagegen zu langsam geritten, reagieren sie vor allem im Schritt und im Galopp mit Taktverschiebungen oder mit rückenschädlichen Schwebetritten im Trab. In diesen Fällen muss das Tempo umgehend angepasst, reduziert bzw. erhöht werden.
Schwieriger ist es dagegen bei Pferden, die von Natur aus gut ausbalanciert sind, denn sie sind in der Lage, das für sie falsche Tempo eine Zeit lang unbemerkt zu kompensieren. Dies verschlechtert jedoch früher oder später die Bewegungsqualität und Durchlässigkeit. Auch bei solchen Pferden ist es enorm wichtig, das passende Tempo zu finden.
Bei der Suche nach dem richtigen Tempo für sein Pferd kann sich der Reiter im Allgemeinen an drei Grundsätzen orientieren:
- Jüngere (noch nicht ausgebildete) Pferde werden meist etwas mehr vorwärts geritten.
- Eilige Pferde sollten vorübergehend etwas unter Tempo, phlegmatische vorübergehend etwas über Tempo gearbeitet werden.
- „Gas“ und „Bremse“ sollten bei jedem Pferd punktgenau funktionieren.
Diese drei Grundsätze darf man aber nicht getrennt voneinander betrachten. So muss bei einem jungen Pferd (aber auch bei jedem anderen), das unter seinem Reiter zu sehr nach vorn geht, also vor deren Gewicht und Hilfen davonläuft, das Tempo ein wenig reduziert werden. Bei einem jungen Pferd dagegen, das kaum einen Schritt vor den anderen macht oder zu einem zeitlupenhaften Ablauf neigt, muss die Bewegungsfreude durch frisches Vorwärtsreiten erst einmal geweckt werden. Beides wird natürlich nur funktionieren, wenn die entsprechenden Hilfen – „bremsen“ durch halbe Paraden bzw. „nach vorne“ durch Akzeptanz von Kreuz und Schenkeln – vom Pferd angenommen werden.
Natürlich klappt bei jungen, gerade angerittenen Pferden weder das Parieren noch das Vorwärtsreiten immer auf Anhieb. Hier ist die Schulung der Hilfengebung besonders gefragt, anfangs ruhig unterstützt durch Stimme (beim Parieren) oder eindeutige Schenkel-/Gertenhilfe (beim Vorwärts), gefolgt von viel Lob und Aussetzen der Hilfe. Hat das Pferd erst einmal begriffen, wie es auf die Hilfen regieren soll, kann der Reiter an die Tempo-Feinarbeit gehen. Dazu muss er wissen bzw. fühlen, zu welchem Bewegungstyp sein Pferd gehört – zum Typ Rennmaus oder zum Typ Schlafmütze.
Typgerechtes Training
Der Typ Rennmaus sollte eher etwas unter Tempo, also bewusst etwas langsamer geritten werden. Reagiert das Pferd nicht, hilft es meist – zumindest im Trab –, gegen die Bewegung leichtzutraben. Dazu bleibt der Reiter beim Aufstehen aus dem Sattel ein wenig länger in der Luft, als es der Ablauf des Pferdes vorgibt. Das fühlt sich (auch fürs Pferd) nicht sehr bequem an, „zwingt“ den meisten Pferden aber sanft eine Verlangsamung auf und verhindert, dass der Reiter ins unerwünschte Zügelziehen kommt.
Beim Typ Schlafmütze dagegen sollte besonders frisch nach vorn geritten werden – und zwar von Anfang an. Das heißt, der Reiter sollte sich bemühen, gleich nach dem Aufsteigen – schon während der Aufwärmphase – im Schritt den Fleiß zu wecken und den Schritt auch während der Arbeitsphase nicht als gemütliche Pause anzusehen. Im Trab hilft ein forsches Arbeitstempo, im Galopp ein energischer Mittelgalopp oder auch nach vorn Galoppieren im leichten Sitz. So auf Betriebstemperatur gebracht, reagieren die meisten gemütlichen Pferde mit mehr Fleiß und Einsatz. Und das erleichtert dem Reiter wiederum die Aktivierung der Hinterhand und damit das Aufrechterhalten der notwendigen Impulsübertragung.
... als etwa ein Fjordpferd – demzufolge ist auch das richtige Grundtempo unterschiedlich. © www.slawik.com
Letztere zwei Punkte sind auch Voraussetzung, damit „Gas“ und „Bremse“ funktionieren. Denn nur wenn die Hinterhand, also der Motor des Pferdes, aktiv mitarbeitet, können durchlässige Tempovariationen erarbeitet und kann das Pferd auf diese Weise gymnastiziert und gekräftigt werden. Neben der Beibehaltung eines sauberen Taktes ist nämlich auch die Reaktion des Pferdes während eines Übergangs sehr aussagekräftig, wenn es um die Frage des richtigen Tempos geht. War das Tempo zum Beispiel vor einer Trabverstärkung zu matt und das Pferd dadurch „auseinandergefallen“, kann es nicht schnell genug in vermehrte Schubkraft umschalten. Die Verstärkung wird nicht gelingen. Das Gleiche gilt jedoch auch, wenn zuvor das Tempo zu hoch war. Selbst beim Zurückführen aus der Verstärkung ist es wichtig, das Vorwärts, also das Vorfußen, nun in Verbindung mit vermehrter Lastaufnahme, beizubehalten. Nur so kann sich ein Pferd von hinten nach vorn wieder verkürzen, somit beim Übergang leicht in der Anlehnung und fleißig im Ablauf bleiben.
Zum Thema Fleiß: Er ist untrennbar mit dem Thema Vorwärts verbunden. Vielleicht hätte Gustav Steinbrecht für weniger Verwirrung gesorgt, hätte er gleich von „reite dein Pferd fleißig“ gesprochen statt von „reite dein Pferd vorwärts“. Fleiß in der Bewegung bezieht sich auf die Aktivität des Abfußens Richtung Schwerpunkt, also „das Bestreben, die Last vorwärts zu bewegen“ – egal, in welcher Gangart und in welchem Tempo. So gibt es Fleiß in einem großen, raumgreifenden starken Schritt ebenso wie in einer (kaum Raum gewinnenden) Piaffe. Um den Fleiß und das Vorwärts (Schubkraft) in der täglichen Arbeit in der Waage mit dem Streben nach Versammlung (Tragkraft) zu halten, ist zum einen das Reiten von Übergängen zwischen den Gangarten (hier vor allem Galopp-Trab- Galopp-Übergänge) sowie von Tempounterschieden in Form von Zulegen und Aufnehmen oder auch halben Paraden innerhalb eines Tempos hilfreich. Außerdem lässt sich mangelnder Fleiß auch während der Arbeit durch das Reiten von Verstärkungen, hier vor allem von Galoppverstärkungen, meist schnell wiederherstellen. Damit ist aber nicht gemeint, Runde um Runde Vollgas zu reiten, denn das macht eine Schlafmütze nur müde und eine Rennmaus bloß nervös. Ein Zulegen zur Auffrischung sollte, ähnlich wie eine reiterliche Hilfe, eher wie ein Impuls wirken und keine Dauerlösung sein.