Zucht

Ammenstuten: Retterinnen in der Not

Ein Artikel von Martina Bartl | 29.04.2025 - 14:58
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Mutterstuten, die bereits ein Fohlen haben, können auch ein zweites, fremdes Fohlen akzeptieren. © www.slawik.com

Jahr für Jahr stehen Zuchtbetriebe oder auch kleine private Züchter:innen vor der traurigen und höchst dramatischen Situation, dass eine Stute nach der Geburt ihres Fohlens verstirbt oder die Stute das Fohlen einfach nicht annimmt. Zum Glück kommt dies – auch aufgrund der mittlerweile guten medizinischen Versorgung – nicht allzu oft vor. „Die bekannte Zahl der Fohlen, die in Österreich eine Ersatzmutter benötigen würden, liegt zwischen 20 und 50 pro Jahr – soweit wir wissen, denn nicht alle Fälle sind uns bekannt, die Dunkelziffer ist dementsprechend hoch“, so Ao. Univ. Prof. Dr. Christine Aurich, Professorin an der Vetmeduni Wien und Leiterin des Graf-Lehndorff-Instituts für Pferdewissenschaften in Neustadt/Dosse. Sie weiß auch, dass es schwierig ist, geeignete Stuten zu finden, und dass diese dann auch zum richtigen Zeitpunkt verfügbar sind. Denn nicht jede Stute ist auch eine gute Ammenstute.

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Sozialisierung und Erziehung in einer Herde sind für alle Fohlen unerlässlich − auch für Waisenfohlen. © www.slawik.com

Mütterlichkeit ist Voraussetzung

Bedenkt man, welche wichtige Rolle in vielerlei Hinsicht die Mutter bei der Aufzucht eines Fohlens hat, wird schnell klar, dass für die Rolle der Amme nicht jede Stute in Frage kommt. Denn für die gesunde Entwicklung eines Fohlens ist nicht nur die Versorgung mit Milch elementar, sondern auch die entsprechende Erziehung und Sozialisierung durch die eigene Mutter, andere Mutterstuten und durch gleichaltrige Fohlen. Es gibt mehrere Faktoren, die eine Rolle spielen, ob eine Stute als Amme geeignet ist: 

  • Erfahrung als Mutterstute: Stuten, die bereits mehrere Fohlen erfolgreich aufgezogen haben, sind oft die besten Ammenstuten. Sie sind routiniert, geduldig und fürsorglich.
  • Gesundheit: Eine gesunde Stute ist unerlässlich. Sie muss frei von Infektionen und anderen ansteckenden Krankheiten sein.
  • Charakter: Eine ausgeglichene, ruhige und gutmütige Stute nimmt fremde Fohlen oft besser an als ein nervöser oder dominanter Charakter.
  • Soziales Verhalten: Stuten, die offen und kontaktfreudig gegenüber anderen Pferden sind, zeigen oft eine höhere Bereitschaft zur Adoption eines fremden Fohlens.
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Im Idealfall laktiert die Ammenstute, und das Fohlen bekommt auf natürlichem Weg ausreichend Muttermilch. © www.slawik.com

Der Idealfall, dass sich die Stute zum Zeitpunkt der Adoption eines Fohlens in der Phase der Milchproduktion befindet, wäre für das Fohlen natürlich optimal, ist aber keine zwingende Voraussetzung. Um die fehlende Milch zu ersetzen, gibt es mittlerweile entsprechende Fertigprodukte, sogar das wichtige Kolostrum ist in Pulverform erhältlich. Selbst wenn die mögliche Ersatzmutter also nicht laktiert, kann die Zusammenführung und Akzeptanz der Stute des fremden Fohlens erfolgreich sein. Besonders mütterliche Stuten, die z. B. ein eigenes Fohlen bei Fuß haben, akzeptieren unter Umständen auch ein zweites, fremdes Fohlen und betreuen dieses wie ihr eigenes. 

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Handaufzuchten sind schwierig und sollten nur eine Notlösung sein, wenn keine Ammenstute gefunden wird. © www.slawik.com

Es kommt auch vor, dass Fohlen ihre Mutter verlieren (oder umgekehrt), wenn sie älter sind und nicht mehr allein auf Muttermilch angewiesen sind. Auch dann ist es für die weitere Entwicklung des Fohlens wichtig, dass es eine Ersatzmutter an der Seite hat, um mütterliche Fürsorge und Erziehung zu erhalten sowie Sozialkompetenz zu entwickeln.

Die Alternative – die Handaufzucht – ist selbst für erfahrene Züchter:innen nur eine Notlösung, denn sie ist aufwendig und besonders (aber nicht nur) bei Hengstfohlen meist auch problematisch: „Ohne Kontakt zu anderen Pferden gehaltene und mit der Hand aufgezogene Fohlen zeigen häufig kaum Berührungsängste gegenüber Menschen. Der mütterliche Einfluss sollte bei solchen Fohlen keinesfalls durch einen intensiven Kontakt zu Menschen ersetzt werden. Für den Erwerb der Sozialkompetenz benötigen solche Fohlen unbedingt den Umgang mit anderen Pferden – vorzugsweise mit einer Ersatzmutter“, weiß auch Dr. Aurich aus Erfahrung. 

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Im besten Fall akzeptiert die Ammenstute ihr neues Pferdekind beim ersten Kontakt. © www.slawik.com

Heikler Moment: Der erste Kontakt

Die Zusammenführung des verwaisten Fohlens mit der Stute ist immer ein äußerst sensibler Moment – bei dem viel falsch laufen kann, sodass die Stute das Fohlen dann nicht annimmt. Oder noch schlimmer: Das Fohlen wird verletzt. Deshalb sollte der Erstkontakt immer mit professioneller Hilfe geschehen, die etwa an der Vetmeduni Wien angeboten wird. Dort werden bereits seit Jahren Stuten mit verwaisten Fohlen zusammengeführt – wenn notwendig auch mit hormoneller Unterstützung: „Die Induktion von mütterlichem Verhalten kann bei Stuten durch Verabreichung hoher Dosen des Hormons Prostaglandin F2alpha oder der entsprechenden Agonisten erreicht werden. Diese werden bei Stuten eigentlich verwendet, um eine Rosse zu induzieren. Zufällig hat sich jedoch gezeigt, dass zu den Nebenwirkungen dieser Präparate auch eine Freisetzung des Hormons Oxytocin aus dem zentralen Nervensystem gehört. Oxytocin ist bei Säugetieren nicht nur für die Steuerung der Wehen, sondern auch für die Ausbildung des mütterlichen Verhaltens verantwortlich. Interessanterweise führt eine direkte systemische Injektion von Oxytocin bei Stuten aber nicht zur Adoption von Fohlen. Dies kann jedoch oft wirksam und schnell durch Behandlung der Stute – unabhängig von ihrem Zyklusstadium – mit dem Drei- bis Vierfachen der typischen luteolytischen Prostaglandin-Dosis erreicht werden. Fünfzehn bis zwanzig Minuten nach der Injektion wird die Stute auf Anzeichen entsprechend ausgeprägter Nebenwirkungen wie Schwitzen, Unruhe, Absetzen von weichem Kot oder Auftreten milder Koliksymptome überwacht. Sobald diese auftreten, wird das Fohlen der Stute vorgestellt“, erklärt Dr. Aurich den Einsatz dieser Behandlung vor der Zusammenführung.

Auch bei der Zusammenführung selbst hat sie mittlerweile viel Erfahrung und weiß, worauf es ankommt: „Zuerst führen wir das Fohlen an den Kopf der Stute und achten auf Anzeichen mütterlichen Verhaltens wie Schnauben, Belecken und Riechen des Fohlens. Das Fohlen wird dann allmählich und vorsichtig an die Flanke der Stute gebracht, wo es nach Bedarf am Euter saugen kann. Das mütterliche Verhalten wird genau auf Akzeptanz des Fohlens überwacht, bevor das Paar unbeobachtet gelassen wird. Meist ist die Adoption sofort erfolgreich, eine komplette Akzeptanz stellt sich manchmal aber erst innerhalb von vier bis 24 Stunden ein. Wenn die Akzeptanz nicht vollständig ist oder wir bei der Zusammenführung Anzeichen von Aggression feststellen, dann geben wir dem Paar Zeit, trennen das Fohlen noch einmal und lassen es in einer Box neben der Stute, bevor die Behandlung der Stute nach 12 bis 24 Stunden wiederholt wird“, beschreibt die Expertin die Vorgehensweise in der Uni-Klinik.

Hilfe im Notfall

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Die Vetmeduni Wien bietet einen Vermittlungsservice für Ammenstuten. © www.slawik.com

Bei der Vermittlung von Ammenstuten zählt jede Sekunde. 
Wer auf Nummer sicher gehen möchte, hat bereits vor der Geburt des Fohlens Kontaktinfos zur Hand. 

Der Moment, wenn eine Stute ihr Fohlen verliert oder umgekehrt ein Fohlen seine Mutter, ist ein höchst emotionaler – für Mensch und Pferd. Schnelle Hilfe für das Fohlen ist oft überlebenswichtig, und auch für Stuten, die ihr Fohlen verloren haben, ist das Zeitfenster sehr klein, in dem sie eventuell ein fremdes Fohlen akzeptieren. Dabei können Social-Media-Plattformen wie etwa Facebook-Gruppen (z. B. Ammenstuten/Waisenfohlen ÖSTERREICH oder Ammenstuten, Waisen­fohlen!) hilfreich sein. Zudem bietet die Vetmeduni Wien einen Vermittlungs­service, um den Kontakt zwischen den Besitzer:innen von verwaisten Fohlen mit jenen von möglichen Ammenstuten herzustellen. Und das rund um die Uhr!

Kontakt: Veterinärmedizinische Universität Wien (Vetmeduni Vienna), Klinisches ­Zentrum für Reproduktion, Veterinärplatz 1, 1210 Wien, Tel. +43 1 250775454, E-Mail: reproduktion@vetmeduni.ac.at

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War die Adoption erfolgreich, kann das neue Mutter-Kind-Duo auf einen geeigneten Aufzuchtplatz übersiedeln. © privat

Was danach kommt

War die Adoption durch die Stute erfolgreich, ist das Fohlen gesund und hat sich an seine Ersatzmutter gewöhnt, dann ist es Zeit, das neue Mutter-Kind-Paar in einen artgerechten Alltag zu entlassen. Ob die weitere Aufzucht beim Stuten- oder beim Fohlenbesitzer geschieht, ist meist Vereinbarungssache zwischen den Haltern. Die Entscheidung sollte dabei nicht aus emotionalen Gründen, sondern zugunsten der besten Aufzuchtbedingungen für das Pferdekind gefällt werden. Das kann auch bedeuten, dass Stute und Fohlen in einen fremden, guten Aufzuchtbetrieb wechseln und dort in eine bestehende Herde integriert werden. Denn, man kann es nicht oft genug wiederholen, eine artgerechte Aufzucht auf großzügigen Weiden in einer Herde an der Seite einer erfahrenen Mutter ist für die weitere gesunde Entwicklung und die Erziehung eines Fohlens unabdingbar.

Ist die Entscheidung, wo die Stute und das Fohlen bleiben, gefallen, sollte – noch vor der Übersiedlung – auf jeden Fall auch vertraglich einiges geregelt werden. Obwohl man in diesem Moment natürlich nicht daran denken möchte: In den folgenden Monaten bzw. auch schon beim Transport kann einiges passieren. Es können Tierarztkosten durch Verletzungen entstehen, Stute oder Fohlen könnten versterben oder einen Unfall verursachen, der zu einer Haftung führt. Deshalb ist es wichtig, im Vorfeld zu klären und schriftlich festzuhalten, wer für die Stute bzw. das Fohlen verantwortlich ist und wer für welche Kosten (laufende Kosten, Tierarzt, Hufschmied, u.s.w.) aufkommen muss. Und falls die Ammenstute gemietet bzw. gepachtet wurde, sollten auch die Konditionen dafür schriftlich festgehalten werden.

Ammenstuten sind eine wertvolle Hilfe für verwaiste Fohlen. Die Auswahl einer geeigneten Stute, optimale Aufzuchtbedingungen und rechtliche Klarheit sind entscheidend für den Erfolg. Mit guter Planung und Geduld kann die Adoption eines Fohlens durch eine Ammenstute eine lebensrettende und bereichernde Erfahrung sein – sowohl für das Fohlen als auch für die Stute.