Ausbildung

So werden Pferde trittsicher

Ein Artikel von Sabine Ellinger | Pamela Sladky | 13.03.2020 - 15:22
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Querwaldein (wo erlaubt!) ist ein gutes Training zur Verbesserung der koordinativen Fähigkeiten des Pferdes. © Franck Kosmos Verlag - Horst Streitferdt

Vermutlich kennt jeder so ein Pferd: Es stolpert über jede kleine Bodenwelle, anscheinend ohne jeden Anlass. Dafür muss es noch nicht einmal im Gelände unterwegs oder unter dem Sattel sein. Selbst auf der völlig ebenen Koppel oder auf dem Reitplatz kommt es immer wieder ins Straucheln. Sieht es vielleicht nicht gut? Erkennt es die Unebenheit nicht? Träumt es einfach vor sich hin und passt nicht auf? Oder bekommt es bloß seine Hufe nicht vom Boden?

Natürlich gibt es unaufmerksame Pferde, die sich von jeder Kleinigkeit ablenken lassen und nicht darauf achten, wohin sie laufen und dann stolpern. Wird jedoch regelmäßig getaumelt, geholpert und gestrauchelt, steckt aller Wahrscheinlichkeit mehr als bloße Unaufmerksamkeit dahinter. Zu den möglichen Ursachen zählen körperliche Probleme wie Stellungsfehler der Hufe, Blockaden in der Wirbelsäule oder neurologische Erkrankungen. In vielen Fällen sitzt der Ursprung des Stolpergangs aber in einem anderen Bereich: der Sensomotorik.

Der Begriff setzt sich zusammen aus „Sensorik“, der Aufnahme von Informationen und deren Weiterleitung an das zentrale Nervensystem, und „Motorik“, der Ansteuerung und der daraus folgenden Anspannung der Muskulatur. Sensomotorik umfasst damit die Fähigkeit eines Lebewesens, Informationen wie Beschaffenheit und Neigung des Bodens an die Muskulatur weiterzuleiten, die darauf entsprechend reagiert.

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Je abwechlsungsreicher das Gelände in der Aufzucht, desto trittsicherer sind Pferde im späteren Leben.
© www.Slawik.com

Hausgemachtes Problem

Die Sensomotorik ist eine Fähigkeit, die sich ein Pferd sukzessive aneignet. Der Grundstein für spätere Trittsicherheit wird bereits in der Aufzucht gelegt. Und genau hier treten auch schon die ersten Probleme auf: Viele Pferde wachsen nicht unter optimalen Bedingungen auf. Optimale Bedingungen sind, abgesehen von einer guten und bedarfsgerechten Fütterung, Bewegungsmöglichkeiten, die die Skelettentwicklung und die Stärkung des Bindegewebes und der Muskulatur von jungen Pferden fördern. Dazu sind ausreichende Bewegungsanreize auf unterschiedlichen Böden notwendig. Um möglichst störungsfrei, sprich ohne aus der Balance zu kommen, mit unterschiedlichen Böden sowie Niveauunterschieden klarzukommen, benötigt das Pferd Koordination. Je besser sie ist, desto geringer fällt die Verletzungsgefahr für die empfindlichen Strukturen im Körper aus.

Die gute Nachricht: Selbst wenn Pferde in ihrer Jugend nicht ausreichend die Möglichkeit hatten ihre koordinativen Fähigkeiten auszubilden und zu üben, lässt sich Defiziten in diesem Bereich auch später noch durch spezielles sensomotorisches Training entgegenwirken.
 

1. Training auf unterschiedlichen Terrains

Besonders gut eignet sich für diesen Zweck die Arbeit auf wechselndem Untergrund. Immer gleichförmige Bewegungsabläufe auf immer gleichen Böden machen Pferde mit der Zeit „terrainfremd“. An diesem Problem haben auch die heutigen optimalen Reitböden ihren Anteil. Zwar ist gegen einen guten Boden prinzipiell überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Ein griffiger und elastischer Untergrund fördert die Losgelassenheit des Pferdes sogar entscheidend. Bewegt sich das Pferd aber ausschließlich auf optimiertem Geläuf, verlernt der Körper, sich auf unterschiedliche Bodenbeschaffenheiten einzustellen. Ist der Untergrund dann einmal tiefer oder härter als gewohnt, hat der Pferdekörper Probleme, damit umzugehen. Und schon kann ein Sehnen- oder Gelenkproblem die Folge sein.  

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Ein harter Untergrund trainiert Hufe und Sehnen. © www.slawik.com

Dabei ist das Pferd von Natur aus eigentlich dafür geschaffen, sich auf unebenem Boden zu bewegen. Wer einmal eine Herde Islandpferde in ihrer Heimat erlebt hat, die im flotten Tempo über Stock und Stein trabt, töltet oder galoppiert, ohne einen falschen Tritt zu machen, dem wird bewusst, dass dazu eine Top-Koordination notwendig ist, die trainiert werden muss. Entweder in der Herde, an der Hand oder aber unter dem Reiter.

Voraussetzung für das Training auf unterschiedlichen Terrains ist, dass Takt, Losgelassenheit und Anlehnung auf ebenem Untergrund sitzen. Danach kann man erste Versuche auf schiefer Ebene und unterschiedlichen Böden starten. Dabei ist es gerade zu Beginn wichtig, in langsamem Tempo und kurzen Intervallen zu trainieren. Bei ungeübten Pferden reichen Anfangs fünf bis zehn Minuten. Nach und nach können Dauer und Schwierigkeit gesteigert werden. Mit zunehmender Kräftigung kommen Bergauf- und Bergabreiten hinzu. Wer sich darauf sicher fühlt, kann instabile Bodenverhältnisse wie eine nasse Wiese, tieferen Boden oder ungleichmäßig tiefen Untergrund etc. ins Programm aufnehmen.

Instabiles Terrain stabilisiert das Pferd, weil es mehr Muskelspannung aufwenden muss, um nicht aus der Balance zu kommen. Pferde mit niedrigem Muskeltonus und weichem Bindegewebe tun sich hier bedeutend schwerer, sie sind deshalb besonders vorsichtig an die neue Aufgabe heranzuführen.

2. Über Stock und Stein

Wer die Möglichkeit hat, querbeet über Baumstämme, Äste und Gräben zu reiten, sollte sie unbedingt nutzen. Beim Reiten in stark unwegsamem Gelände werden vor allem die kleinen Muskeln rund um die Wirbelsäule aktiviert, die auf der Ebene deutlich weniger angesprochen werden. Schon im Schritt in ruhigem Tempo gibt diese Arbeit dem Pferd die Gelegenheit, seinen Körper über sämtliche Unebenheiten zu koordinieren.

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Beste Prophylaxe für Sehnen- und Gelenkschäden: abwechslungsreiches Training im Gelände © www.slawik.com

Die absolute Königsdisziplin und deshalb gut trainierten Pferden vorbehalten, ist das Überreiten von Hindernissen in gebogenen Linien auf gleichzeitig schiefer Ebene bei ungleichmäßig tiefem Boden. Dabei muss sich das Pferd dreidimensional koordinieren, weshalb das Training bereits im Schritt sehr anstrengend ist. Sehr gut koordinierte Pferde meistern diese Höchstschwierigkeit nach einiger Zeit aber auch im Trab und sogar im verkürzten Galopp.

3. Dressur im Gelände

Eine gute Möglichkeit, die Sensomotorik des Pferdes zu verbessern, ist Dressurarbeit im Gelände. Es ist ungleich schwieriger, Lektionen auf einer holprigen Wiese zu reiten als in der Reitbahn, denn jede Unebenheit oder Steigung erhöht die Anforderungen an die Koordination. Eine Lektion auf unebenem Boden oder bergauf/bergab geritten ist deutlich anspruchsvoller und dadurch gymnastisch wertvoller, weil nicht zuletzt andere Muskelgruppen angesprochen werden. Das fördert nicht nur die körperliche Geschicklichkeit, sondern auch die geistige Flexibilität und sorgt für sinnvolle Abwechslung im Trainingsalltag. Zudem kann das Gelände gezielt zur Verbesserung von vermeintlichen Schwachstellen genutzt werden. Über einen Wiesenweg mit freier Sicht fällt vielen Pferden eine Tempoverstärkung deutlich leichter als in der Reithalle, Bergaufpassagen verbessern die Schubkraft ganz automatisch, beim Bergabreiten lässt sich gezielt an der Tragkraft arbeiten.

Dressur draußen: So wird Dressurreiten im Gelände zum Erfolg
Genug vom Kringelreiten im Dressurviereck oder in der Reithalle? Dann nichts wie raus! Wie man sein Pferd auch im Gelände sinnvoll dressurmäßig gymnastizieren kann, verrät Ausbilderin und Buchautorin Katharina Möller. Hier weiterlesen.

4. Vom Spezialisten zum Allrounder

Vor einigen Jahrzehnten war es noch üblich, Pferde in der Grundausbildung vielseitig zu trainieren. Es war selbstverständlich, dass ein künftiges Dressurpferd auch gesprungen und im Gelände geritten wird. Während der ersten zwei Jahre der Ausbildung sollte das junge Pferd mit allen Aspekten der Reiterei vertraut gemacht werden. Dieses Vorgehen hatte zur Folge, dass das Pferd mental sehr flexibel wurde, aber auch sein Körper in der Lage war, sich reflexartig auf verschiedene Situationen einzustellen. In den Gestüten wurden die jungen Hengste auch eingefahren, selbst wenn sie später als Reitpferde eingesetzt wurden – und mit einem Dressurpferd eine Jagd mitzureiten, war durchaus nicht ungewöhnlich. Viele Reit- und Turnierpferde wurden gleichermaßen in der Dressur und im Springen ausgebildet.

Und heute? Heute gibt fast nur noch Spezialisten. Das gilt für Pferde übrigens gleichermaßen wie für deren Reiter. Springreiter können sich nur selten für eine intensivere Dressurarbeit begeistern – und gäbe es heute noch den Gehorsamssprung nach einer Dressurprüfung, wären die Starterfelder vermutlich deutlich kleiner. Junge Pferde werden gemäß ihrer Abstammung, ihrer Bewegungsqualität oder ihrem Springvermögen von Anfang in eine Richtung gefördert. Ein Dressurpferd muss nicht lernen, wie man einen Sprung überwindet – und ein Springpferd braucht nur insoweit eine dressurmäßige Ausbildung, dass man im Parcours gut klarkommt.

Was manchem sinnvoll und effizient erscheint, erweist sich im Hinblick auf die Sensomotorik als fataler Fehler. Hat das Pferd neben der einseitigen Belastung unter dem Sattel auch noch zu wenig Möglichkeit, sich frei zu bewegen, werden physischen Problemen Tür und Tor geöffnet.

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Kleine Sprünge im Gelände fördern die Sensomotorik von Pferd und Reiter. ©www.Slawik.com

Damit es gar nicht erst so weit kommen kann, heißt es, dem Pferd nicht nur ausreichend Koppel- und Weidegang – vorzugsweise im Herdenverband – zu ermöglichen, sondern auch das Training abwechslungsreich zu gestalten. Dressurtraining, Bodenarbeit, Springgymnastik und Ausflüge ins Gelände fordern und fördern das Pferd auf unterschiedliche Weise und helfen nicht nur körperlich fit zu bleiben, sondern auch geistig wachsam und rege.
 

Stolpern gehört dazu

Wichtig für alle Trainingsemfehlungen: Wenn das Pferd ins Stolpern kommt, bitte keine Panik schieben! Wenn Sie Ihr Pferd nicht überfordert haben und es nicht bereits übermüdet ist, wird es sich koordinieren. Stolpern oder Wegknicken gehören dazu. Versuchen Sie nicht, Ihrem Pferd zu „helfen“ indem Sie die Zügel kurz nehmen und es oben halten wollen. Das muss es selbst bewerkstelligen. Als Reiter haben Sie die Verantwortung, das Pferd entsprechend vorzubereiten. Sie sind auch verantwortlich dafür, dass Sie Ihr Pferd nicht in ein Fiasko lenken, das es nicht bewältigen kann. Aber für die Koordination seiner Beine trägt das Pferd die Verantwortung. So viel dürfen und können Sie ihm auch zutrauen!

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Über Sabine Ellinger
Sabine Ellinger ist Pferdeausbilderin und Inhaberin eines Reha-Zentrums für Pferde nordöstlich von Stuttgart. Auf ihrer Anlage werden Pferde nach Operationen, aber auch bei funktionellen Störungen wieder fit für den Alltag gemacht. Sabine Ellinger arbeitet nach den klassischen Richtlinien und der Skala der Ausbildung. Das sensomotorische Training ist eines ihrer Spezialgebiete.