Neubeginn

Der Stallwechsel als Chance für Pferd und Mensch

Ein Artikel von Eva Schweiger | 17.05.2023 - 11:40
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Ein bisschen verloren kann man sich im neuen Zuhause zu Beginn schon fühlen – aber keine Angst! Mit Zeit und Vertrauen macht der Neubeginn Spaß und schweißt zusammen. © www.Slawik.com

In unserem Stall gibt es ein altes Pferd, das sein ganzes Leben lang fast jede Nacht in derselben Box verbracht hat. Es musste nie in einen anderen Stall umziehen, sich nie an eine andere Umgebung oder eine ganz neue Herde gewöhnen. Ein Idealfall? Vielleicht gar nicht so sehr. Denn große Veränderungen müssen für ein Pferd nicht nur Stress bedeuten, sondern können unter den richtigen Umständen auch einen wertvollen Beitrag zu einem erfüllten Pferdeleben leisten.
 

Neugierige Nomaden

Wildpferde in Freiheit führen ein höchst abwechslungsreiches, teilweise nomadisches Leben. Sie durchstreifen große Gebiete, erleben und erkunden eine täglich sich verändernde Umgebung und erforschen immer wieder Fremdes. Sie sind neugierig und grundsätzlich interessiert an allem, was sie noch nicht kennen. Ist es ihnen möglich, unternehmen Wildpferde in vielen Regionen der Welt im Verlauf des Jahres wiederkehrende Wanderungen. Sie tragen damit der Futter- und Wasserverfügbarkeit, dem Klima und der sozialen Dynamik der Herde Rechnung. So entwickeln sie im Laufe ihres Lebens detailreiche Landkarten im Kopf, die Erfahrungen und Erlebnisse mit Orten verknüpfen. Sie leben in einer ständig anregenden, fordernden Umgebung mit der Möglichkeit, ihr angeborenes und durch Erfahrungen erarbeitetes Können und Wissen anzuwenden. Dafür gibt es eine wichtige Voraussetzung: die Unterstützung eines stabilen sozialen Netzwerks.

Dieses liefert ihnen ihre Familiengruppe, in der vor allem die Stuten oft über viele Jahre, wenn nicht sogar ein Leben lang verbleiben. Große Pferdeherden mit vielen Tieren sind unter Wildpferden weniger häufig zu finden. Allein die meist kargen Lebensräume verhindern deren Bildung, weil sie nicht genügend Futter für große Gruppen von Pflanzenfressern liefern. Aber auch die soziale Dynamik führt immer wieder zur Aufspaltung bestehender Gruppen. Kurz: Das Pferd ist im Grunde für ein sehr abwechslungsreiches Leben unter dynamischen Bedingungen geschaffen.

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Das Pferd fühlt sich durch soziale Zugehörigkeit sicher und kann dadurch Herausforderungen leichter meistern. © www.Slawik.com

Gewohnheitstiere

Zugleich sind Pferde aber offenbar auch Gewohnheitstiere – man denke nur an die Ausbrüche von Ungeduld im Stall rund um die gewohnten Fütterungszeiten oder die Mittagsschläfchen auf dem Paddock zur immer gleichen Uhrzeit.  Sie haben eine erstaunlich exakte innere Uhr, kennen den täglichen Ablauf im Stall nach kürzester Zeit genau und ahnden jede Abweichung davon mit fast militärischer Strenge. Verändert sich ein Winkel des Hofs, kann das sogar zu explosiven Gefühlsausbrüchen führen.

Hat unser anscheinend höchst unflexibles Hauspferd seine freie Nomadenseele denn komplett verloren? Nein, hat es nicht.  

Das Pferd hat sich nur durch seinen Alltag in unserer Obhut zu einem etwas ängstlichen Stubenhocker entwickelt.


Es hat sich nur durch seinen Alltag in unserer Obhut zu einem etwas ängstlichen Stubenhocker entwickelt. Es ist schlichtweg nicht gewohnt, täglich vor neuen Herausforderungen zu stehen, sondern hat vielmehr von klein auf gelernt, dass sein Leben von Routinen geprägt ist. Diese Routinen haben jedoch nicht in erster Linie mit den Pferden selbst zu tun, sondern mit unserem Arbeitsalltag im Stall: Wir Menschen sind es, die gerne getaktete und vorhersehbare Abläufe planen, weil sie uns unsere Aufgaben erleichtern.

Pferde kommen auch wunderbar ohne Zeitpläne aus. Sie sind zum Beispiel selbst was ihre Fütterungszeiten betrifft sehr flexibel, sobald sie verstanden haben, dass das Futter nicht immer zur selben Zeit in der Krippe landet. Dann reduzieren sich übrigens auch ihre Ungeduld und das Risiko, daraus Stereotypien zu entwickeln.

Die Herde macht das Pferd

Was unsere Hauspferde im Vergleich zu ihren wilden Verwandten also so scheinbar unflexibel macht, sind die besonderen Bedingungen, unter denen sie leben. Es gibt in ihrem Alltag oft wenig Raum für ihre angeborene Neugier und ihren Entdeckergeist. Die Folgen sind unausgeglichenes Verhalten, auch übermäßige Ängstlichkeit angesichts allem Fremden, im Extremfall sogar Stalluntugenden.

Mit Veränderungen und Neuheiten entspannt umzugehen, gelingt Pferden am besten, wenn sie daran gewöhnt sind, dass ihr Lebensumfeld dynamisch sein kann. Eine gewisse Stabilität brauchen sie dennoch immer, um sich sicher zu fühlen. Im Idealfall ist das die soziale Stabilität: Harmonische Gruppenstrukturen, in denen sie sich aufgehoben fühlen, sind das Um und Auf für ihre Resilienz gegenüber Veränderungen. Wenn sie nicht Teil einer funktionierenden Herde sind, befinden sie sich sozusagen im „sozialen Vakuum“: Ihnen fehlt das Zugehörigkeitsgefühl, sie können keine soziale Rolle in einer Gruppe übernehmen und sich nicht als Mitglied einer Gemeinschaft empfinden. Es geht ihnen dann genauso wie uns Menschen, wenn wir keine erfüllenden Sozialkontakte haben: Wir fühlen uns einsam, werden schnell ängstlich, wütend oder traurig, sind vielleicht sogar anfälliger für psychische und körperliche Krankheiten. Verändert sich dann auch noch etwas in unserem gewohnten Tagesablauf, empfinden wir das als unzumutbare Belastung.

Dasselbe kann bei sozialer Überforderung passieren. So können Pferde, die zwar täglich über viele Stunden, vielleicht sogar rund um die Uhr, eine Gruppe Artgenossen um sich haben, darin unter Umständen keine Sicherheit finden – zum Beispiel, wenn die Koppelpartner sehr oft wechseln oder die Herde sehr unharmonisch ist.

Auch der Einfluss unseres Trainings und Umgangs mit ihnen ist dabei nicht zu vernachlässigen: Kommt ein Tier gut oder schlecht gelaunt aus dem Training auf die Koppel zurück, beeinflusst es automatisch all seine Herdengenossen. Negative Stimmung macht Auseinandersetzungen häufiger, aggressives und defensives Verhalten beginnt zur Tagesordnung zu gehören. Als Pferdebesitzer:innen sehen wir in solchen Fällen bei jedem Blick auf die Koppel angelegte Ohren, drohende Gesichtsausdrücke, schlagende Schweife, Pferde die sich miesepetrig absondern oder apathisch „wegbeamen“. Die Herde wird dann zum Stressfaktor, anstatt den Pferden den Rückhalt zu bieten, der es ihnen ermöglicht, Veränderungen positiv aufzunehmen.

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Eine negative Grundstimmung in der Herde begünstigt Auseinandersetzungen unter ihren Mitgliedern.
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Neugier hilft gegen Angst

Eine große Veränderung der Lebensumstände wie ein Stallwechsel ist für jedes Pferd eine Herausforderung. Dabei ist es nicht unbedingt primär das neue Lebensumfeld, sondern der Verlust des sozialen Netzes, der Pferden besonders zu schaffen macht. Deshalb finden sich sozial wenig oder gar nicht integrierte Pferde oft augenscheinlich problemloser in einem neuen Stall zurecht. Am anderen Ende des Spektrums stehen die, die kleben: Für sie wird durch einen Umzug das Gefühl von sozialer Unsicherheit unter Umständen so groß, dass sie sich keinen Schritt weit mehr von ihrem Bezugspferd entfernen wollen.

Egal, welches Verhalten ein Pferd nach einem Umzug zeigt – ob lethargisches, hyperaktives, ängstliches, defensives oder auch ganz unauffälliges – in den ersten Monaten sollte es die Möglichkeit haben, sich ohne Zeitdruck und zusätzliche Herausforderungen einzuleben.

Das Gebot lautet: dem Tier Zeit geben und Verständnis dafür haben, wenn die ersten Schritte im neuen Zuhause holprig sind.

Die ersten Tage bis Wochen sollten mit viel Ruhe und ohne Herausforderungen im Training vergehen. Das Pferd braucht Zeit, um sich alles genau anzusehen und sein neues Umfeld zu erkunden. Viele spätere „Schreck-Ecken“ lassen sich schon in dieser Phase entschärfen, wenn man den Reiz des Unbekannten zu nutzen weiß: Gehen Sie mit Ihrem Pferd gemeinsam auf Erkundungstour durch die Anlage (einen Übungstipp dazu finden Sie hier)! Am besten zuerst nur in Sichtweite eines bereits bekannten Ortes, dann mit jeder Tour ein wenig weiter. Lassen Sie Ihr Pferd entscheiden, was es als nächstes sehen will. Es wird sich, wenn Sie ihm Zeit lassen, mit jedem neuen Objekt neugierig auseinandersetzen. Beobachten, beschnuppern, anknabbern und abtasten, aus verschiedenen Winkeln betrachten – das sind wichtige Informationsquellen für ein Pferd. Übrigens erforschen Pferde ihre Welt auch grasend und beobachten ihre Umgebung dabei ganz genau und ohne Eile. Lässt man sie das tun, wirkt vieles gleich weniger bedrohlich. Wer kennt nicht den beruhigenden Effekt eines Stücks Schokolade im Mund …

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Pferde erkunden ihre Umgebung gerne grasend.   © www.Slawik.com

Frischer Wind im Training

Ist die erste Zeit des Ankommens vorbei, geht es mit dem gewohnten Training weiter. Nutzen Sie den frischen Wind, den so ein Umzug in die Arbeit bringen kann! Vielleicht helfen dabei neue Trainingsanreize und -möglichkeiten: Hügel oder Berge rund um den Stall, während früher kilometerweit nur flache Feldwege zu finden waren, machen eine chronisch schwache Lendenmuskulatur plötzlich stark wie nie. Oder gibt es vielleicht einen Trailplatz mit Wippe und Baumstämmen, wo ganz neue Koordinationsübungen entstehen können?

Neue Stallgemeinschaften liefern Pferd und Reiter:in hilfreiche Inputs: Unterrichtet jemand im neuen Stall eine Reitweise, die man schon immer ausprobieren wollte? Gibt es jemanden, der spannende gymnastizierende Bodenübungen kennt und gerne weitergibt? Findet sich in der Koppelgruppe ein neuer bester Freund für den Vierbeiner, der zufällig wunderbar als Handpferd mit ins Gelände gehen kann? Es sind viele neue Erlebnisse, die sich Pferd und Mensch auftun.

Aber Achtung: Lassen Sie Ihre Begeisterung für das Neue nicht zu Ungeduld werden!

In der ersten Zeit des Ankommens und Einlebens sind manche Pferde so sehr mit ihrem neuen Umfeld beschäftigt, dass sie sich kaum aufs Training konzentrieren können. Es kann dauern, bis sie sich an ihrem neuen Zuhause „sattgesehen“ haben. Nachsicht und Geduld sind gefragt. Auch hier schlummert übrigens eine wunderbare Gelegenheit für das Vertrauensverhältnis: Gesteht man seinem Pferd Zeit zu, begrüßt man seine Neugier, unterstützt man es in unsicheren Momenten mit Gelassenheit, ohne zu drängen oder abschätzig zu reagieren, wächst das Vertrauen des Pferdes exponentiell.

Jede gemeinsam durchgestandene Unsicherheit schweißt Mensch und Pferd enger zusammen.

Unterschätzen Sie diese Verbindung nicht: Gerade während großer Veränderungen kann ein vertrauter Mensch eine große Stütze für ein Pferd sein.

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Gewohnte Abläufe bieten Halt in der Fremde. © www.Slawik.com

Vertraute Strukturen nutzen

Überhaupt gibt Bekanntes in Zeiten von Veränderungen viel Sicherheit. Das gewohnte Futter zum Kurswochenende oder aufs Turnier mitzunehmen, ist zum Beispiel aus guten Gründen Usus. Nicht nur, weil der Verdauungsapparat des Pferdes sehr sensibel auf Umstellungen reagiert, sondern auch, weil damit etwas Vertrautes für Entspannung beim Pferd sorgen kann. Auch bekannte Abläufe geben Sicherheit. Nicht umsonst haben wir Pferdemenschen so viele liebgewonnene Rituale rund um unsere Vierbeiner. Sie strukturieren die gemeinsame Zeit und machen sie vorhersehbar. Das ist gerade in herausfordernden Zeiten sehr wohltuend. Ein paar Minuten Kraulen während des Putzens, die Portion Mash nach dem Training, eine bestimmte Aufwärmübung in der Reithalle – daran können Mensch und Pferd sich anhalten und eine Pause von den Herausforderungen machen, die eine große Veränderung mit sich bringt.

Tipps für den Umzug

  • Vor dem Umzug bietet sich beim Packen die ideale Gelegenheit, Spinde und Kästen auszumisten, Ausrüstung zu reinigen und zu pflegen, auszusortieren und Ordnung zu schaffen. Achten Sie dabei aber darauf, dass nicht schon Tage vor dem Umzug Stress ausbricht. Eine entspannte und ruhige Atmosphäre ist für Pferde sehr wichtig, um mit dem Ortswechsel und dem eventuell anstrengenden Transport gut zurechtzukommen.
  • Wenn die Entfernung und die Strecke es zulassen, ist ein Umzug zu Fuß für Pferde oft die angenehmere Variante! Man erspart ihnen damit den „Schock“, außerhalb ihrer geistigen Landkarte an einem fremden Ort zu landen.
  • Nach der Ankunft im neuen Zuhause ist es für Mensch und Pferd gleichermaßen aufregend, sich zurechtzufinden. Achten Sie darauf, dass Ihr Pferd Futter und Wasser findet und beobachten Sie, ob es zum Beispiel mit einem unbekannten Tränkesystem zurechtkommt. Gute Dienste kann hier eine digitale Stallüberwachung leisten! Auch die Integration in eine neue Herde lässt sich so leichter beobachten.
  • Steht Ihr Pferd anfangs zum Beispiel auf einem Integrationspaddock, bietet sich auch dort ein Sicherheitscheck an: Die Zäune müssen eventuellen Keilereien gewachsen sein und dürfen keine Gefahren des Verhedderns und Hängenbleibens bergen. Schließlich kann es im Nahkontakt mit den neuen Mitbewohnern schnell zu brenzligen Situationen kommen.
  • Auch körperlich ist Ihr Pferd nach dem Umzug gefordert. Ein neues Kraftfutter, eine andere Heu- und Grünfutterqualität, ein eventuell verändertes Fütterungsregime fordern den Verdauungstrakt. Dazu kommt bei Barhufern der Untergrund, der vielleicht für mehr oder weniger Abrieb als sonst sorgt. Wetter, Klima und Haltungsbedingungen stellen neue Ansprüche an Fell und Hufe, unter Umständen auch an den Bewegungsapparat und die inneren Organe. Um sich an all das anzupassen, braucht der Pferdekörper viel Zeit und vielleicht auch medizinische, hufpflegerische oder sonstige Unterstützung. Das Wichtigste ist darum: Die Zeit der Veränderung aufmerksam durchleben!