Pferd-Mensch-Beziehung

Übungsserie „Persönlichkeiten“ – Teil 5: So zeigt dir dein Pferd seine Welt

Ein Artikel von Eva Schweiger | 12.01.2022 - 10:10

Ihrem Drang, ihre Umgebung kennenzulernen und zu verstehen, gehen Pferde auf vielerlei Weise nach. Wir alle kennen diese Momente: Ein Pferd steht wie angewurzelt, die Ohren sind gespitzt und die Aufmerksamkeit höchst fokussiert in die Ferne gerichtet. Oder es nähert sich mit geblähten Nüstern, rundem Hals und großen Augen zögerlich einem unbekannten Objekt. Manche Pferde müssen alles beknabbern und anstupsen, manche beschnuppern beim Spazierengehen am liebsten jeden Haufen Pferdeäpfel.

Wir reagieren auf all das gerne mit Ungeduld: „Davor kannst du doch keine Angst haben, stell dich nicht so an!“ denken wir uns, oder: „Komm schon, daran sind wir heute doch schon fünf Mal vorbeigegangen!“

Was wir nicht bedenken: Es geht oft gar nicht um Angst oder Verweigerung, sondern um schlichtes Interesse an der Umwelt! Entführen wir sie aus ihrer täglich gleichen Umgebung in Box und Paddock in die „weite Welt“, haben sie das Bedürfnis, die Gelegenheit zu nutzen. Was sich verändert hat, ist es schließlich wert, untersucht zu werden!

Statt vor allen Dingen an körperlichen Fähigkeiten, Verständnis und Gehorsam des Pferdes zu arbeiten, kann auch die Selbstsicherheit, ein gelassener Umgang mit Herausforderungen oder die emotionale Stabilität gefördert werden.


aus: „Persönlichkeiten auf vier Beinen“, Pferderevue Dezember 2021

Dabei ist die Neugier das vorherrschende Motiv. Negative Gefühle werden erst daraus, wenn sie nicht ausgelebt werden darf. Neigt ein Pferd zur Ängstlichkeit und lernt durch unsere (negative) Reaktion auf sein Zögern, dass es tatsächlich Grund zur Sorge gibt, wird es auf Fremdes bald mit echter Angst reagieren. Gelassene Charaktere werden statt schreckhaft eher lethargisch, wenn ihnen ihr Interesse am Neuen aberzogen wird. Das beste Mittel dagegen: Dem Pferd bewusst die Gelegenheit geben, sich mit seiner Umwelt auf seine Weise auseinanderzusetzen. Deshalb machen wir in der letzten Übung dieser Serie heute eine Erkundungstour mit den Pferden

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© www.Slawik.com

Übung 5: Auf Erkundungstour

Nach unseren vorigen Übungen hat dein Pferd nun verstanden, dass es in dir einen höflichen, respektvollen und ehrlich interessierten Partner gefunden hat. Es hat dich durch das Aufhalftern aus freien Stücken darum gebeten, dich mit ihm zu beschäftigen. Nun könnt ihr gemeinsam auf eine echte Entdeckungsreise gehen:

  • Für diese Übung verwendest du am besten einen möglichst langen Strick und ein Stallhalfter. Ein Zaumzeug oder Knotenhalfter brauchst du hierfür nicht, auch keine Gerte oder Leckerlis. Nimm dir ganz bewusst vor, dich die kommende Stunde (oder auch länger!) völlig auf dein Pferd einzulassen. Heute geht es nicht um Ziele und Vorstellungen. Heute könnt ihr euch richtig treiben lassen.
  • Nach dem Aufhalftern machst du deinem Pferd den Vorschlag, mit dir aus der Box oder von der Koppel zu gehen. Beweg dich einfach vorwärts und beobachte, was dein Pferd macht. Zögert es? Dann lass ihm Zeit. Streichle es ein bisschen, hock dich nieder oder steh einfach neben ihm und warte, bis es selbst einen Vorschlag macht.
  • Folgt dir dein Pferd nach dem Aufhalftern gleich? Dann kannst du es ein Stück führen, ohne dabei jedoch Gedanken wie „Komm weiter, dort müssen wir hin!“ aufkommen zu lassen. Erinner dich – heute gibt es keine Ziele! Achte genau auf dein Pferd. Am besten gehst du an seiner Schulter, um seine Mimik im Blick zu behalten und es nicht dazu zu animieren, dir blind zu folgen. Du kannst deinem Pferd jetzt absichtlich die Führung übergeben. Wo will es hin? Was möchte es untersuchen? Oder hat es gerade eher Lust, zu grasen, als sich zu bewegen? Lass dich führen. Tipp: Du wirst erstaunt sein, welchen Unterschied es für euch beide macht, ob dein Pferd hinter, neben oder vor dir geht. Spiel damit und experimentiere! 
  • Ganz wichtig: Eure Erkundungstour soll euch beiden Spaß machen. Pferde haben ein gutes Gefühl für Respekt und Gegenseitigkeit. Das heißt: Keiner von euch zerrt den anderen hinter sich her, niemand rempelt den anderen an oder ignoriert seine Wünsche. Das kann dein Pferd genauso im Kopf behalten wie du. Wenn du merkst, dass dein Pferd dich nicht beachtet, wenn du ein Signal gibst, lenk seine Aufmerksamkeit wieder auf dich. Es geht nicht um das Abrufen von Lektionen, sondern um einen laufenden Dialog. Oft genügt ein deutliches „Hey!“ oder ein sanfter Stupser mit der Hand, damit dein Pferd nicht vergisst, dass du in diesem Dialog genauso eine Stimme haben willst.
  • Es ist eine sehr ungewohnte Sache, sich von einem Pferd führen zu lassen. Auf „pferdischen“ Spaziergängen geht alles viel langsamer: Man bleibt oft stehen, schaut sich um, rastet ein wenig, nimmt vielleicht hier und da ein Büschel Gras oder ein paar Laubblätter mit. Manchmal dauert es fast unerträglich lange, bis es weitergeht. Mach dir bewusst: Dein Pferd lebt in einer viel gemächlicheren Welt, die keinen Zeitdruck und keine Zielsetzungen kennt. Es kann eine echte Herausforderung sein, sich darauf einzulassen. Vielleicht schwirren dir ständig noch unerledigte Aufgaben im Kopf herum und du wirst ungeduldig, wenn dein Pferd sich minutenlang Zeit nimmt, um etwas zu untersuchen. Sei genauso verständnisvoll dir selbst wie deinem Pferd gegenüber: Ihr lebt in sehr verschiedenen Welten, und braucht eine Weile, um euch aneinander anzupassen. Und hast du dir diese eine Stallecke, den frisch gefällten Baum im Wald oder die Pferde auf der Nachbarkoppel eigentlich selbst schon einmal genau angesehen? Wer weiß, was es da zu entdecken gibt…
  • Je länger und je öfter ihr miteinander auf Erkundungstour geht, desto mehr Gelegenheit hat dein Pferd, sich dir in all seinen Facetten zu zeigen. Worauf achtet es besonders? Schaut es oft zu seinen Herdenkollegen hinüber, wenn ihr rund um die Koppel unterwegs seid? Dann ist es vielleicht besonders gesellig, hat gerne den Überblick über alle Herdenmitglieder oder vermisst seine Freunde schnell. Ist es voller Energie, marschiert flott und zielstrebig dahin? Dann liebt es wahrscheinlich die Abwechslung, besitzt viel Mut und Selbstsicherheit. Oder ist es mit der Nase am Boden nur von Grasbüschel zu Grasbüschel unterwegs, schnuppert an allen Kübeln und sagt freundlich Hallo zu jedem Menschen, der euch begegnet? Das klingt nach einem gemütlichen, offenen Charakter, mit dem sich wunderbar verträumte Stunden verbringen lassen.

Mit dieser Erkundungstour kannst du immer wieder einen Dialog auf Augenhöhe mit deinem Pferd anfangen. Es wird auch dir guttun, ab und zu die Rollen zu tauschen und dein Pferd die Führung übernehmen zu lassen. Nach und nach wird euer Zusammensein immer harmonischer, ehrlicher und verständnisvoller werden. Die Persönlichkeit deines Pferdes wird dir vertrauter und du wirst herausfinden, wie du es mit diversen Trainingsideen unterstützen kannst. Im Gegenzug schätzt auch dein Pferd dich genau so wie du bist. Eine echte Freundschaft eben!

Übrigens: Wo die Erkundungstour besonders hilfreich sein kann, liest du in der kommenden Februar-Ausgabe der Pferderevue: Wir zeigen dir, wie Pferde sich nach einem Stallwechsel am besten im neuen Zuhause einleben!