Lahmheiten früh erkennen

24 Anzeichen für Schmerzen beim Reitpferd

Ein Artikel von Redaktion | 30.09.2022 - 16:46
13300926457592.jpg

Rollende Augen, und eine sichtbare Sklera (das Weiße im Auge) - eines von 24 Anzeichen, das das Pferd möglicherweise an Schmerzen leidet © hhurma13 - Fotolia.com

Reiterinnen und Reiter sind nicht gerade Weltmeister wenn es darum geht, Schmerzzustände im Bewegungsapparat ihrer Pferde zu erkennen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass viele Lahmheiten unerkannt bleiben. Im Rahmen einer britischen Forschungsarbeit erwiesen sich 47 % von 506 Sportpferden bei näherer Untersuchung als lahm oder zumindest schmerzbedingt taktunrein. Ihre Reiter:innen hatten davon nichts bemerkt und ihre Pferde ganz normal gearbeitet und belastet. Dass die Brit:innen mit ihren Fehleinschätzungen nicht alleine sind, macht eine weitere Studie aus Schweden deutlich. Hier zeigten 53 % von 201 Sportferde eine messbare Gangasymmetrie, wenn sie an der Hand vorgetrabt wurden – und auch hier waren die Reiter:innen überzeugt gewesen, ihre Vierbeiner seien völlig in Ordnung. Bei einer ähnlichen, in der Schweiz durchgeführten, Studie waren es mit 46 % immerhin knapp die Hälfte aller Pferde, die unbemerkt unrund liefen.

HER_0036.jpg

© Elke Hellmich

Lahm oder nicht? Mehr als die Hälfte der Reiter:innen liegt mit ihrer Einschätzung daneben

„Geht mein Pferd gerade oder lahmt es?“ Diese Frage stellen sich Pferdebesitzer:innen im Laufe eines Pferdelebens vermutlich unzählige Male. Die Antwort, die sie sich selbst darauf geben, scheint allerdings nicht sonderlich zuverlässig. Denn häufig werden völlig gesunden Pferden Lahmheiten angedichtet, während lahme Pferde für gesund erklärt werden. Mehr lesen ...

Leitfaden zur Schmerzerkennung

Dass Lahmheiten und Ganganomalien häufig unentdeckt bleiben, hat mehrere Gründe. Mangelndes Wissen und eine fehlende Blickschulungen fallen darunter. Oft sind die Hinweise, die Pferde ihren Reiter:innen geben, aber auch so subtil, dass sie nicht auf Anhieb mit Schmerzen in Verbindung gebracht werden. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, haben britische Tiermediziner:innen um Orthopädie-Fachfrau Dr. Sue Dyson ein spezielles Schmerz-Ethogramm entwickelt – ein Liste bestimmter Verhaltensweisen, die, wenn sie gehäuft und in Kombination auftreten, auf Schmerzzustände im Bewegungsapparat des Pferdes hinweisen.

8+ Anzeichen = hohe Wahrscheinlichkeit für Schmerzen

Das 24 Punkte umfassende Ethogramm hat sich in zahlreichen Forschungsarbeiten als sehr zuverlässig erwiesen. Zeigen Pferde mehr als acht der darin aufgeführten Anzeichen, ist die Chance groß, dass es irgendwo kneift. Pferde ohne Schmerzen erfüllen in der Regel nicht mehr als 2 der 24 Punkte.

Schmerz-Ethogramm für gerittene Pferde

  1. Wiederholte Positionswechsel des Kopfes (rauf/runter), die nicht im Einklang mit dem Trabrhythmus stehen
  2. Dauerhaft verworfen im Genick oder immer wieder auftretende verworfene Kopfhaltung
  3. Kopf vor der Senkrechten (>30°) für eine Dauer von über 10 Sekunden
  4. Kopf hinter der Senkrechten (>10°) für eine Dauer von über 10 Sekunden
  5. Häufiger Wechsel der Kopfposition. Der Kopf wird von einer Seite zur anderen geworfen oder verdreht und ständig korrigiert.
  6. Ohren (beide oder eines) nach hinten rotiert, vertikal oder flach, für eine Dauer von über 5 Sekunden; Ohren werden immer wieder flach angelegt
  7. Augenlider geschlossen oder halb geschlossen für 2 bis 5 Sekunden; häufiges Blinzeln
  8. Das Weiße im Pferdeauge (Sklera) ist immer wieder zu sehen.
  9. Intensives Starren („glasiger“, „abwesender“ Ausdruck) für mehr als fünf Sekunden
  10. Wiederholtes Öffnen und Schließen der Mauls mit Trennung der Zähne für eine Dauer von mehr als 10 Sekunden
  11. Das Pferd lässt seine Zunge hervorstehen oder heraushängen und/oder bewegt sie wiederholt ins bzw. aus dem Maul.
  12. Das Gebiss ist auf einer Seite (links oder rechts) wiederholt durchs Maul gezogen.
  13. Das Pferd trägt seinen Schweif fest eingeklemmt oder seitlich.
  14. Schweifschlagen mit großen Bewegungen: wiederholt auf und ab, von einer Seite zur anderen oder kreisend; wiederholt auftretend bei Übergängen
  15. Ein gehetzter Gang; unregelmäßiger Rhythmus im Trab oder Galopp; wiederholte Tempowechsel im Trab oder Galopp
  16. Ein sehr langsames Tempo; passageartiger Trab
  17. Die Hinterbeine folgen nicht den Spuren der Vorderbeine, sondern weichen wiederholt nach links oder rechts ab; das Pferd läuft auf drei Hufspuren im Trab oder Galopp.
  18. Wiederholtes Umspringen im Galopp vorne und/oder hinten; wiederholtes Angaloppieren auf dem falschen Bein; Kreuzgalopp
  19. Spontane Gangwechsel (z. B. Wechsel von Galopp in den Trab oder Trab in den Galopp)
  20. gehäuftes Stolpern; wiederholtes beidseitiges Schleifen der Hinterhand
  21. Plötzlicher Richtungswechsel; scheuen
  22. Bewegungsunlust, ausgeprägte Triebigkeit, spontanes Stoppen
  23. Steigen
  24. Buckeln oder nach hinten austreten (mit einem oder beiden Hinterbeinen)

Widersetzlich aus gutem Grund

Pferde, die eines oder mehrere dieser Verhaltensweisen an den Tag legen, gelten oft als schwierig, unrittig oder gar als „Verbrecher“. Dabei liegt in einer Vielzahl der Fälle dem vermeintlichen Ungehorsam ein körperliches Problem zu Grunde. Dysons Untersuchungen haben gezeigt, dass die oben genannten Verhaltensweisen bei Pferden mit Lahmheit und/oder Schmerzen zehnmal häufiger auftreten, als bei anderen. „Wir sind konditioniert darauf, dass viele Verhaltensweisen von Pferden normal sind. Doch sie sind es nicht“, sagt Dyson. „Wir müssen lernen zu verstehen, dass das, was wir als 'unerzogen' bezeichnen, oft nur das Spiegelbild zugrunde liegender Schmerzen ist.“

gelderlaender105.jpg

© www.slawik.com

Doku soll aufklären

Dass sich eine Lahmheit oft schon lange anbahnt, bevor das typische Nicken des Kopfes zu sehen ist, soll ein neuer Dokumentarfilm mit dem Titel „24 Behaviors of the Ridden Horse in Pain: Shifting the paradigm of how we see lameness“ zeigen. Der 35-minütige englischsprachige Film, der am 30. September veröffentlicht wurde, will den Blick von Pferdeliebhaber:innen auf „schwierige“ Pferde verändern indem er zeigt, woher das vermeintliche Problemverhalten eigentlich herrührt – und wie man Schmerzzustände beim Pferd möglichst früh erkennt.