Jovian unter Andreas Helgstrand anlässlich des CHIO Aachen im vergangenen Juli © www.sportfotos-lafrentz.de
Frau Professor Aurich, viele Leserinnen und Leser fragen sich: Wie riskant ist es, einen Hengst im Alter von elf Jahren zu kastrieren?
Hengste kann man auch in diesem Alter durchaus noch kastrieren. Es wird immer wieder gemacht. Allerdings sind die Komplikationsraten etwas erhöht. Ältere Hengste haben meist weitere Leistenringe, dadurch steigt das Risiko eines Darmvorfalls. Auch Blutungen treten leichter auf. Deshalb empfehlen wir ganz klar: Kastration in der Klinik, in Vollnarkose, im Liegen. Das ist kontrollierter und sicherer. Auf der anderen Seite birgt natürlich auch die Vollnarkose Risiken – vom Narkosezwischenfall bis hin zu Verletzungen und Beinbrüchen beim Niederlegen oder Aufstehen.
Welche Komplikationen können bei einem solchen Eingriff konkret auftreten?
Da gibt es leider eine ganze Reihe. Neben Narkosezwischenfällen kann es zu einer Hyperthermie (Anm.: eine deutliche Überwärmung des Körpers) kommen, ausgelöst durch Medikamente oder in der Aufwachphase. Akute, massive Blutungen sind möglich. Auch Infektionen, etwa eine Bauchfellentzündung, können entstehen. Und selbst wenn alles zunächst gut läuft, sind Nachblutungen oder Komplikationen im Bauchraum nicht ausgeschlossen.
Warum entscheidet man sich dann überhaupt für eine Kastration bei einem älteren Hengst?
Weil es dem Pferd tatsächlich ein besseres Leben ermöglichen kann. Wenn ein Hengst züchterisch kaum mehr gefragt ist, die Samenqualität aber gesichert konserviert wurde, liegt die Entscheidung nahe. Als Wallach kann er stressfreier gehalten und auch sportlich oft besser gefördert werden. Gerade im Spitzensport ist das eine Überlegung, die man haben muss. Ich halte es sogar für unfair, einen Hengst unbedingt Hengst bleiben zu lassen, wenn das für ihn mehr Belastung als Vorteil bedeutet.
Auf den Europameisterschaften in Crozet wirkte Jovian sehr hengstig und abgelenkt. Spielt so etwas in die Entscheidung hinein?
Natürlich. Wenn ein Pferd im Alltag und im Wettkampf durch sein Hengstverhalten gestört ist, kann eine Kastration seine Lebensqualität und auch seine Karriere verbessern. Das ist eine Überlegung, die in solchen Situationen absolut legitim ist – gerade wenn Tierschutz im Pferdesport immer häufiger ein Thema ist.
Bleibt noch der Zeitpunkt: Eine Kastration so kurz nach einem Championat mit Transporten und Prüfungen – ist das verantwortungsvoll?
Der Zeitpunkt wirkt auf den ersten Blick unglücklich, ja. Nach einer großen Veranstaltung und langen Reisen denkt man sofort, das könnte zusammenhängen. Aber wir wissen nicht, ob das tatsächlich der Fall ist. Und man weiß auch nicht, warum genau die OP zu diesem Zeitpunkt angesetzt wurde. Es kann auch medizinische Gründe gegeben haben – etwa einen Verdacht auf Kolik oder auf einen Darmvorfall. Dann wäre eine Operation ohnehin notwendig gewesen. Grundsätzlich gilt: Solche Entscheidungen werden nicht leichtfertig getroffen. Wir reden hier von einem international gefeierten Sporthengst, einem Aushängeschild. Niemand würde da fahrlässig handeln, das kann sich gerade ein Andreas Helgstrand, der medial ohnedies in der Schusslinie ist, einfach nicht leisten. Ich sehe das Geschehen insgesamt als ein sehr unglückliches Ereignis.