R-haltenswert

Disziplinen im Vergleich: Wo Pferde im Sport harmonisch arbeiten – und wo es hakt

Ein Artikel von Pamela Sladky | 04.12.2025 - 14:47
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Der R-haltenswert-Bericht zeigt: Im Pferdesport läuft vieles solide bis sehr gut - aber es liegt auch einiges im Argen. © FEI/Mackenzie Clark

Manchmal hilft ein Blick von außen, um das Eigentliche wieder klarer zu sehen. Die Initiative R-haltenswert hat sich genau das vorgenommen: den Pferdesport nicht von innen heraus zu beurteilen, wo Routinen und Gewohnheiten vieles verdecken, sondern mit dem unermüdlichen, manchmal unbequemen, aber jedenfalls konstruktiven Blick derjenigen, die keine sportlichen Interessen vertreten. Beim Weltcupfinale in Basel waren sie erstmals als externe Beobachter unterwegs, bei den German Masters in Stuttgart folgte nun der große Auftritt ihres neuen Formats: das Reflection Panel.

Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich ein unabhängiges Expertengremium aus den Bereichen Richtertätigkeit, Ausbildung, Veterinärmedizin, Bewegungsanalyse, Ethik und Kommunikation, das die sportlichen Darbietungen beobachtet und analysiert. Das Ziel des Projekts: Fairness, Transparenz und ethische Verantwortung im Pferdesport stärker in den Mittelpunkt zu rücken.

Überprüft wurden die Darbietungen der Disziplinen Dressur, Springen, Fahren und Vielseitigkeit auf mehrere Ebenen:

  • Biomechanik: Bewegungsabläufe, Losgelassenheit, Gleichgewicht, Tragkraft, Bewegungsqualität.
  • Disziplin/Technik: korrekte Anwendung der Hilfen, Linienführung, Umsetzung der Lektionen.
  • Ausbildung: Orientierung an der klassischen Skala, Durchlässigkeit, Anlehnungsqualität, mentale und körperliche Balance.
  • Gezeigtes Konfliktverhalten (Ethik): objektiv erfasste Verhaltensindikatoren wie Maul- und Zungenaktivität, Schweifschlagen, Taktunregelmäßigkeiten, Kopf-Hals-Variation, Umspringen, Widerstände oder Stresssignale.

Etwas mehr als zwei Wochen später liegt ein fast 100 Seiten starker Abschlussbericht vor. Die Ergebnisse zeichnen ein differenziertes Bild: viel verantwortungsvolle Reitkultur, aber auch deutliche Spannungsmuster – und ein klarer Auftrag an Reiter:innen, Veranstalter und den Weltverband, wenn der Sport gesellschaftlich akzeptiert bleiben soll.


Vielseitigkeit: Die Klassenbeste

Als Musterschülerin in allen Bereichen präsentierte sich in Stuttgart die Vielseitigkeit. Die Mehrzahl der Ritte bewegte sich über alle Ebenen hinweg im gelben, sprich soliden, sowie im grünen, also sehr guten, Bereich. Nur selten sahen die Expert:innen deutlichen Entwicklungsbedarf, der als roter Bereich eingestuft wurde. Die Vielseitigkeitspferde boten ein insgesamt stimmiges Bild guter Ausbildung. Losgelassenheit, Takt, Elastizität – das Panel fand viele Gründe, zufrieden zu sein. Gleichzeitig wurde sichtbar, dass die Anlehnung der sensibelste Parameter ist, aber das überrascht in einer Disziplin, die auf Flexibilität und schnelle Reaktionen angelegt ist, nicht allzu sehr.

Ein paar Anregungen gab es dennoch: weniger Showlautstärke, noch präzisere Kommunikation, etwas weniger Stresspotential durch Inszenierung. Aber im Großen und Ganzen lautet das Fazit:

„Pferdewohlorientierte Vielseitigkeit ist möglich – und sie wird bereits sichtbar gelebt.“


R-haltenswert
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Den Springreiter:innen in Stuttgart wurde ein erfreulich gutes Zeugnis ausgestellt. Die überwiegende Mehrheit ritt solide bis sehr gut. Im Bild: Max Kühner auf Blues d'Aveline   © www.sportfotos-lafrentz.de

Springen: Solide Arbeit, Ausrüstung weiterhin eine Baustelle

Überwiegend positiv schnitten auch die Springreiter:innen in Stuttgart ab. Hier ritten annähernd zwei Drittel im soliden Bereich, fast 20 % sogar nahe am Ideal. „Viele Ritte sind funktional, sicher und zurecht im Sport verankert“, so das ermutigende Resümee. Bei einem zahlenmäßig kleinen Prozentsatz sahen die R-Haltenswert-Fachleute hingegen Rot: instabile Anlehnung, hektische Einwirkung, biomechanische Störungen und deutliches Konfliktverhalten. „Diese Fälle zeigen, wie eng technische, mentale und biomechanische Faktoren miteinander verknüpft sind.“

In Sachen Ausrüstung, also Gebisse, Zäumungen und Hilfszügel, beobachtete R-haltenswert ein wiederkehrendes Muster, das man bereits aus Basel kennt: Vieles von dem, was im Maul oder am Kopf der Pferde hängt, dient weniger der feinen Kommunikation als vielmehr der Kompensation – für fehlende Losgelassenheit, zu viel Grundspannung oder Defizite im Ausbildungstand. Begünstigt wird diese Vorgehensweise durch die weit gefassten FEI-Regulierungen, die eine sehr große Varianz an Gebissen und Verschnallungen zulassen.

Die Empfehlung ist klar: Wer den Springsport pferdefreundlicher machen will, muss über Standardisierung und Grenzen bei Gebissen und Zäumungen sprechen. Die FEI wäre gut beraten, diese Diskussion nicht länger aufzuschieben.

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Der Fahr-Weltcup setzt auf viel Spektakel - oft zulasten der Pferde © FEI / www.sportfotos-lafrentz.de

Fahren: Wenn Spektakel stresst

Gemischt fiel die Bilanz im Fahren aus. Die Pferde waren durchweg arbeitsbereit und leistungswillig, die Fahrerinnen und Fahrer professionell und bemüht – daran lag es nicht. Doch die Bewerbe waren geprägt durch "ein deutlich spannungsgeprägtes Leistungsbild." Und das aus gutem Grund: Die Bedingungen des Hallen-Weltcups sind, freundlich formuliert, eine Herausforderung. Unfreundlich formuliert, ein Stresstest.

„Der World Cup ist eine Showveranstaltung – kein Maßstab für pferdegerechtes Fahren“, bringt es das Panel ungeschönt auf den Punkt. Die Weltcupprüfungen würden „teilweise wie ein modernes Gladiatorenformat“ wirken, mit überinszenierter Showwirkung, hoher Lautstärke, engen Räumen – und nur nachrangigem Fokus auf das Pferdewohl. „Für sensible Fahrpferde ist dies eine massive Zusatzbelastung, was sich in vielen Kategorien (Losgelassenheit, Atmung, Stressverhalten) deutlich abbildet.“

Die Verbesserungsvorschläge sind gleichermaßen simpel wie effektiv: weniger enge Wendungen, weniger abrupte Musikwechsel, weniger publikumsgetriebene Dynamikelemente und den Verzicht auf künstlich erzeugte Spannung. Kurz: Mehr Pferd, weniger Spektakel.

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Harmonische Dressurritte waren in Stuttgart laut R-haltenswert-Bericht die Ausnahme. Doch sie seien der Beweis, dass "Dressur pferdegerecht und konfliktarm möglich ist." © FEI / www.sportfotos-lafrentz.de

Dressur: Reichlich Verbesserungspotenzial

Und dann ist da noch die Dressur. Die Disziplin, die für Harmonie, Losgelassenheit und innere Ruhe stehen sollte. Die Disziplin, die seit Jahren besonders im Fokus der Öffentlichkeit steht. Und die Disziplin, die im Bericht am deutlichsten abfällt. Denn hier tat sich die größte Diskrepanz zwischen technischer Ausführung und fundamentaler Losgelassenheit auf. „Viele Pferde arbeiten funktional, jedoch unter einem wiederkehrenden Spannungsniveau, das sich in Biomechanik, Ausbildung, Disziplinbewertung und gezeigtem Konfliktverhalten konsistent widerspiegelt. Harmonische, losgelassene Gesamtbilder sind möglich, stellen jedoch die Ausnahme dar“, so das Resümee der R-haltenswert Fachleute.

In den Bereichen Methodik, Ausbildung und Ethik dominierte der Anteil „roter“ Ritte und bewegte sich damit im „kritischen Bereich“. Viele Pferde zeigten mehrere parallele Konfliktanzeichen – offenkundig in Maulöffnen, sichtbarer Zunge, Schweifaktivität, Taktstörungen, Stolpern, plötzlichen Kopf-Hals-Variationen. Nicht aus Unwilligkeit, nicht aus schlechter Reiterei, sondern weil dem Urteil der R-haltenswert Fachleute zufolge die körperlichen Voraussetzungen fehlten: Tragkraft, Rumpfstabilität, äußere wie innere Losgelassenheit.

Die wenigen wirklich durchgängig harmonischen Ritte stachen durch ruhige, stabile Anlehnung, Losgelassenheit und Schwung, eine aktive und tragende Hinterhand, kaum sichtbare Einwirkung, mentale Gelassenheit und ein Gleichmaß ohne Konfliktpunkte hervor. Für R-haltenswert sind sie der Beweis, dass „Dressur pferdegerecht und konfliktarm möglich ist, Ausbildung und Reitkultur entscheidend sind – und dass Losgelassenheit keine ‚Option‘, sondern eine Grundbedingung ist.“

Harmonie ist möglich – realistisch, erreichbar und sichtbar. Sie entsteht nicht durch Technik allein, sondern durch Vertrauen, Losgelassenheit und biomechanische Stabilität.


R-haltenswert

Pferdegerechter Sport ist möglich

Am Ende lässt sich der Bericht auf einen Satz verdichten: Pferdegerechter Sport ist möglich – aber nur, wenn biomechanische Stabilität, mentale Gelassenheit und feine Kommunikation zusammenkommen.

Wo sie zusammenfallen, entstehen Bilder, die sowohl sportlich herausragend als auch ethisch überzeugend sind. 

Wo sie fehlen, entstehen Spannungs- und Konfliktmuster, die nicht Ausdruck mangelnder Fähigkeit, sondern fehlender Voraussetzungen sind. 

Für den Weltreiterverband FEI und alle Verantwortlichen ergibt sich aus all dem ein klarer Auftrag: Die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Harmonie nicht zur Ausnahme, sondern zur Regel wird. Denn Akzeptanz ist in der Gesellschaft längst kein Selbstläufer mehr.

Der gesamte Bericht des R-haltenswert Reflection Panels kann hier heruntergeladen werden.