Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, der Zivilisation zu entfliehen, auf dem Rükken der Pferde die Welt zu entdecken, frei und unabhängig dem Abenteuer entgegenzuziehen? Den Sternenhimmel als Dach, den Horizont als Ziel, durch Landschaften, so eindrucksvoll und fantastisch, dass man sie nicht in Worte fassen kann, in Gegenden, in die kein Fremder sonst vordringt… Günter Wamser lebt diesen Traum. 1994 startete er zu einer Reise, die er „Transhumanica“ nannte, die Durchquerung des amerikanischen Doppelkontinents in einer humanen Weise, die Natur und Mensch gerecht wird. Reisen im Tempo der Pferde ist sein Leben.
An einem kalten und grauen Novembertag im Jahr 2006 saß ich im Wiener Austria Center und träumte. Ich ließ mich von farbenfrohen Bildern auf der Leinwand nach Südamerika entführen und lauschte den Geschichten, die Günter über seine Reise durch Süd- und Mittelamerika erzählte. Was für eine Idee, was für ein Projekt! Was für ein Leben! Da will ich mit!
Der Gedanke ließ mich nicht mehr los – und sechs Monate später war ich dabei. Ohne lange nachzudenken kündigte ich meinen gut bezahlten Karrierejob als Unternehmensberaterin und meine Wohnung und stürzte mich in das Abenteuer – eine Entscheidung, die ich bis heute keinen Moment bereut habe. Im Juni 2007 starteten wir zu einer weiteren Etappe und durchquerten mit vier Mustangs und der Hündin Leni die Bergwelt der Rocky Mountains.
Mustangs aus dem Gefängnis
An einem glühend heißen Juninachmittag stehen wir mit 80 Kilogramm Gepäck und unserer aufgeregten kleinen Hündin Leni am Flughafen von Denver. Am Himmel hängen dunkle Gewitterwolken, die Abkühlung versprechen. Die Hitze und Trockenheit der Sommermonate hat die Landschaft in eine gelb-braune Steppe verwandelt.
Wenige Tage nach unserer Ankunft fahren wir nach Canon City, Colorado, um die Pferde abzuholen. Ich bin aufgeregt wie ein Kind vor dem ersten Schultag. Es ist fast zwanzig Jahre her, seit ich das letzte Mal auf einem Pferd saß. Günter beruhigt mich: „Im Moment ist es einfach wichtig, dass du keine Angst hast, den Umgang mit den Pferden wirst du unterwegs lernen.“ In Wahrheit ist auch er unruhig und angespannt. Denn jede neue Reise bringt neue Herausforderungen. Daran ändert auch jahrzehntelange Erfahrung nichts. Eine Reise mit Pferden durch die USA kann man nicht vergleichen mit einer Reise durch Süd- oder Mittelamerika. Wir werden im Hochgebirge unterwegs sein, oft tage- oder wochenlang durch die Wildnis reiten, ohne bei einer menschlichen Behausung vorbeizukommen. Und der vielleicht wichtigste Unsicherheitsfaktor: Günter ist mit einem neuen Team unterwegs. Er hat mit mir nicht nur eine neue Begleiterin, sondern auch neue Pferde. Seine beiden argentinischen Helden Gaucho und Rebelde, mit denen er die gesamte Strecke von Feuerland bis Mexiko geritten war, durften nicht in die USA einreisen. Sie genießen ihren Ruhestand in Mexiko. Sogar Leni ist neu. Die Jack Russel-Hündin ist erst knapp zwei Jahre alt und noch sehr übermütig und verspielt.
Wir haben uns für Mustangs entschieden, die legendären Wildpferde Amerikas. Sie gelten als ausdauernd, genügsam, und wenn man sie erst einmal gezähmt hat, als sehr zutraulich und anhänglich. Etwa 30.000 wilde Pferde leben noch auf den Prärien des Westens. Diese Zahl würde rasch ansteigen, denn es gibt heute kaum mehr natürliche Feinde. Daher werden jedes Jahr Wildpferde eingefangen und in Auffanglager gebracht. Eines dieser Auffanglager ist das Gefängnis von Canon City in Colorado. Dort sind elf Insassen und ein Aufseher und Trainer mit dem Zureiten wilder Mustangs beschäftigt. Uns gefiel die Philosophie des Programms, und so ließen wir unsere Mustangs im Rahmen dieses Sozialprojektes zureiten. Bei der Ausbildung von Pferden lernen die Strafgefangenen Geduld, Vertrauen und Einfühlsamkeit – und sie haben Erfolgserlebnisse. „Zunächst ist da ein wildes Tier, doch schon bald, mit etwas Geduld, kann man das Vertrauen dieser Pferde gewinnen“, erzählt mir Rick, einer der Gefangenen, der unsere Pferde trainierte.
Als wir sie am ersten Abend auf der riesigen Weide laufen lassen, springen sie übermütig hin und her. Sie genießen ihre neu entdeckte Freiheit. Hoffentlich können wir sie am nächsten Tag wieder einfangen.
Vorbereitung und Zweifel
Selbst Mitte Juli finden sich in den South San Juan Bergen noch große Schneefelder © Günter Wamser & Sonja Endlweber
Die nächsten Wochen werden anstrengend und herausfordernd. Unsere Pferde wurden zwar zugeritten, doch sie müssen noch viel lernen. Außerdem sind sie jung und schreckhaft. Nicht nur ich muss einiges einstecken, auch Günter fliegt einmal in hohem Bogen aus dem Sattel, als sich sein Pferd vor einer Klapperschlange erschreckt. Unterwegs soll jedes Pferd als Reit- und als Packpferd eingesetzt werden können. Mit vielen Übungen gewöhnen wir die Pferde zunächst an die Packsättel, dann an die leeren Packtaschen und schließlich auch daran, dass sie Gepäck tragen müssen, das manchmal klappert und scheppert. Neben den vier Pferden wird auch Leni langsam an das große Abenteuer herangeführt. Hat sie die Pferde zunächst noch wütend angeknurrt, läuft sie jetzt schon selbstsicher in der Koppel umher und respektlos unter den Pferdebäuchen durch.
Der Aufstieg zum 4000 Meter hohen James Peak in Colorado führt über steinige Pfade. © Günter Wamser & Sonja Endlweber
Mit der Zeit lernen wir unsere Pferde besser kennen. Dino, von uns aufgrund seines Bäuchleins auch liebevoll „der Dicke“ genannt, möchte gerne der Boss der Gruppe sein, dabei ist er der Schreckhafteste von allen. Lightfoot wird seinem Namen überhaupt nicht gerecht, er stolpert über jeden Stein. Dafür ist er sehr gutmütig, man kann alles von ihm verlangen. Unserem dritten Pferd geben wir den Namen Azabache, das ist Spanisch und bedeutet: nicht schwarz, nicht braun. Er wird wohl der Clown der Gruppe werden. Azabache ist neugierig, muss an allem schnuppern und erschrickt meistens dabei. Der vierte heißt Rusty und ist ein kleiner, zart gebauter Rotbrauner. Er wird mein Liebling.In diesen ersten Wochen stoße ich immer wieder an meine Grenzen. Nicht nur einmal denke ich ans Aufgeben, erscheint mir die Idee unserer Reise einfach zu verrückt. Unser Ziel ist es, den 5000 km langen Continental Divide Trail (CDT), der entlang der kontinentalen Wasserscheide durch die Rocky Mountains von Mexiko bis Kanada führt, zu reiten. Die kontinentale Wasserscheide verläuft von der Beringstraße in Alaska bis zur Südspitze Patagoniens in Südamerika. Sie teilt die Zuflüsse zum Atlantik im Osten und zum Pazifik im Westen. Der CDT, der entlang dieser Wasserscheide führt, ist einer von acht National Scenic Trails Amerikas. Heute ist der Weg erst zu 70 Prozent fertig gestellt, außerdem gilt er als der schwierigste Trail der USA. Er führt bis auf über 4000 Meter ins Hochgebirge, oft Tagesritte von der Zivilisation entfernt. Das birgt jede Menge Potential für Abenteuer. Man könnte natürlich auch einen einfacheren Weg durch die Vereinigten Staaten suchen oder entlang von Straßen reiten, doch wir wollen nicht auf dem einfachsten oder dem schnellsten, wir wollen auf dem schönsten Trail unterwegs sein. Der CDT führt durch die spektakulärsten Landschaften Amerikas, er durchquert zwanzig Wildnisgebiete und drei Nationalparks: Glacier, Yellowstone und Rocky Mountain National Park. Fünf Bundesstaaten liegen auf unserem Weg: die Hochebene New Mexikos, die höchsten Spitzen der Rocky Mountains in Colorado, die einsamen Ebenen Wyomings, ein kurzes Stück von Idaho und die zerklüftete Bergwelt Montanas.
Der Aufbruch
An einem Montag im August geht es endlich los. Eine kleine Reitergruppe hat sich vor dem Haus versammelt. Sie wird uns beim Start ins Abenteuer einige Stunden begleiten. Eine dunkle Wolkenschicht verdeckt die sonst gnadenlose Sommersonne Colorados und verspricht einen angenehmen Reittag. Günter und ich haben schlecht geschlafen, zu viele Gedanken gingen uns durch den Kopf. Auch Leni spürt die Aufregung, sie springt begeistert an mir hoch, beisst in den Zipfel meiner Jacke, tobt und rast wie verrückt umher. Als wir endlich losreiten, löst sich die Anspannung der vergangenen Wochen. Ich fühle mich leicht und unbeschwert, hüpfe innerlich auf und ab vor kindlicher Freude. Günter geht es ähnlich, ich sehe es am Leuchten in seinen Augen – auch wenn er sich etwas mehr konzentrieren muss als ich. Er hat mir für die ersten Etappen der Reise das Packpferd abgenommen. So kann ich unbeschwert dahinreiten, während er sich mit zwei Packpferden herumschlagen muss. Dazu hat er den Führstrick des zweiten Packpferdes mit einer dünnen Schnur am Packsattel des ersten Packpferdes angebunden. Gehen die Pferde aus irgendeinem Grund durch, würde die Schnur einfach abreißen. So wird verhindert, dass das zweite Packpferd von dem ersten gewaltsam mitgerissen wird und sich dabei womöglich verletzt.
Spiegelung im ruhigen Wasser eines Tümpels in der Weminuche Wildnis © Günter Wamser & Sonja Endlweber
Der Weg führt durch einen engen, dicht bewachsenen Canyon. Immer wieder müssen wir den kleinen Bach durchqueren, uns unter den herabhängenden Ästen ducken und über Baumstämme, die den Weg versperren, springen. Auf einem dicken Baumstamm liegt eingerollt und friedlich schlummernd eine Klapperschlange. Rusty und ich reiten mit Respektabstand vorbei.
Dem Canyon folgt ein steiler, steiniger Anstieg hinauf auf eine Hochebene. Auf einer Lichtung machen wir Pause, strecken uns in der Wiese aus und lassen uns von der Sonne wärmen. Rusty reibt sein weiches Maul an meiner Hüfte. Er ist auf der Suche nach dem Leckerli, das ich in den Hosentaschen für ihn habe. Dann nehmen wir Abschied von unseren Freunden und reiten alleine weiter.
Wir sind tatsächlich unterwegs! Nach Wochen und Monaten der Planung und des Trainings hat die Reise begonnen. Am späten Nachmittag erreichen wir eine große Wiese. Am Waldrand schlagen wir unser Lager auf. Wir haben Proviant für uns und die Tiere für zwei Wochen dabei. So lange werden wir bis zum nächsten Dorf unterwegs sein. Schon jetzt sind wir von der Tatsache begeistert, dass es hier anscheinend noch möglich ist, wochenlang unterwegs zu sein, ohne eine Straße zu überqueren. In den Rocky Mountains gibt es noch riesige Flächen unberührter Wildnis. Abends machen wir es uns am Lagerfeuer gemütlich. Ein Reh streift anmutig durchs Gras. Misstrauisch blickt es zu uns hinüber, läuft aber nicht davon. Gibt es ein größeres Vergnügen, als am Lagerfeuer zu sitzen, die müden Muskeln zu entspannen und dabei gedankenverloren die Natur rundherum zu betrachten?
Nachts wache ich auf. Ich krabble aus dem Zelt, um den Sternenhimmel zu sehen, die Kälte der Nacht zu spüren und mir zu beweisen, dass alles nicht nur ein Traum ist. Lightfoot und Azabache sind angebunden. Das Rascheln des Zeltes hat sie geweckt. Lightfoot wiehert mir leise zu. Im Mondschein sehe ich die Silhouetten der anderen beiden, die auf der Wiese grasen. Ein Gefühl tiefer Zufriedenheit breitet sich in mir aus.
Unterwegs im Hochgebirge
Unsere Reise startet mit der Durchquerung des Rocky Mountain Nationalparks. Da unser Trainingsplatz im Norden Colorados liegt, d. h. eigentlich bereits auf halbem Weg durch die USA, wollten wir nicht gleich weiter nach Norden, Richtung Alaska reiten, weil wir sonst zwei wunderschöne Bundesstaaten ausgelassen hätten. Und so reiten wir erst einmal nach Süden. Im Nationalpark bekommen wir einen ersten Eindruck der wilden, unberührten Natur, durch die uns unser Weg führen wird. Longs Peak thront mit über 4000 Metern als höchster Gipfel über dem Park, in dem Elche und Dickhornschafe, aber auch Eichkätzchen und Kolibris zu Hause sind. Auch für unsere Pferde ist der Anblick wilder Tiere aufregend, nachdem sie viele Monate im „Gefängnis“ verbracht hatten. Immer wieder scheuen sie vor auffliegenden Vögeln oder flüchtenden Rehen. Am meisten aber erschreckt sie ein Elch, der in nur fünfzig Metern Entfernung aus einem Gebüsch tritt. Entsetzt beobachten wir, wie unsere Pferde mit gehobbelten Vorderbeinen einen steilen, steinigen Hang empor klettern. Atemlos klettern wir ihnen auf dem steilen Anstieg hinterher und folgen ihren Spuren durch den Wald. Bei Einbruch der Dunkelheit müssen wir die Suche abbrechen. An diesem Abend sitzen wir voller Sorge am Lagerfeuer. Wir studieren die Karte, das Gelände ist unübersichtlich, es könnte Tage dauern, bis wir die Pferde finden. Immer wieder nehmen wir uns vor, nicht alle vier Pferde gleichzeitig grasen zu lassen, doch immer wieder ist die Versuchung zu groß, sie wenigstens nach dem Absatteln für eine Stunde alle vier freizulassen. Eigentlich sollten sie müde sein, und nicht ans Weglaufen denken!
Lager am Rock Creek in der Mount Massive Wildnis – die anderen drei Pferde grasen auf der nahen Lichtung. © Günter Wamser & Sonja Endlweber
Mit dem ersten Tageslicht machen wir uns wieder auf die Suche. Wir finden ihre Spuren und folgen ihnen. Am Übergang von Nadel- zu Laubwald verlieren sich die Spuren. Durch die Blätter des Laubwaldes scheint einladend die Sonne. Wir wollen gerade diese Richtung einschlagen, als wir ein freudiges Wiehern aus der anderen Richtung hören. Lightfoot begrüßt uns freundlich, er scheint sich über unseren Anblick zu freuen. Wir jedenfalls sind heilfroh, die Pferde gesund wiederzuhaben.
Wir sind unterwegs in Richtung Süden auf der kontinentalen Wasserscheide, die sich hier als markanter Gebirgskamm aus der Landschaft erhebt. Links und rechts geht es einige hundert Meter in die Tiefe. Weit unter uns schimmert ein blauer Gebirgssee knapp über der Baumgrenze. Immer wieder hören wir das schrille Pfeifen der Murmeltiere. Es ist ein herrlicher Tag, sonnig und warm. Trittsicher und ruhig trotten die Pferde über den steinigen Trail, immer wieder rupfen sie ein paar Grashalme vom Wegesrand. Ich habe den Eindruck, auch sie genießen diesen wunderschönen Tag.
Auf steilen, schmalen Pfaden geht es den Berg hinauf. Wir müssen absteigen und die Pferde führen. Die Luft in dieser Höhe ist dünn. Völlig außer Atem folge ich Günters Rat, packe Rusty mit der linken Hand am Schweif, mit der rechten halte ich den Führstrick von Lightfoot, und so lasse ich mich den Berg hinaufziehen – wie an einem Schlepplift. Die Aussicht ist überwältigend, die markanten Bergspitzen einiger Viertausender zeichnen sich schroff gegen den tiefblauen Himmel ab. Colorados Hochgebirgslandschaft ist eine der faszinierendsten der Welt. Weit südlicher gelegen als die Alpen, liegt die Baumgrenze bei 3500 Metern, und auf 3800 Metern blühen noch Enzian und Almrausch. Eine sommerliche Blumenwiese breitet sich zu unseren Füssen aus, feuerroter Indian Paintbrush und violette Rocky-Mountains-Akelei. Seit Tagen haben wir keinen Menschen getroffen. In welche Himmelsrichtung man auch blickt, keine Zeichen von Zivilisation stören das Auge, keine Hochspannungsleitung, keine Straßen, keine Sendemasten. Über ein langes Schuttfeld erreichen wir den 3800 Meter hohen Gipfel von Mount Flora.
Pferde auf Entdeckungsreise
Weder Weg noch Weiser: Die Orientierung im weglosen Gelände bei dichtem Nebel ist immer wieder eine Herausforderung. © Günter Wamser & Sonja Endlweber
Etwa drei Stunden brauchen wir jeden Morgen, um Frühstück zu machen, das Lager abzubauen und die Pferde zu bepacken. Fünf bis sieben Stunden sind wir dann im Sattel, bevor wir uns einen neuen Lagerplatz an einem Fluss oder See suchen. In den Wildnisgebieten der USA ist zelten überall erlaubt, solange man sich an gewisse Grundregeln hält.
Wir lagern am Bear Lake, in der Holy Cross Wildnis, einem wunderschönen, einsamen Fleckchen Erde. An diesem Morgen brechen die Pferde aus Übermut und Entdeckungslust ohne uns auf. Günter folgt ihren Spuren und kommt erst Stunden später mit ihnen zurück. Es ist nicht das letzte Mal, dass sie alleine auf Entdeckungsreise gehen. In den folgenden Wochen und Monaten büchsen sie immer wieder aus, und wir müssen sie suchen. Günter ist mittlerweile ein Profi im Pferdesuchen. In all den Jahren gaben ihm seine Pferde immer wieder Gelegenheit, Praxis im Pferdesuchen zu sammeln. Er kann Spuren lesen wie ein alter Trapper, sich in die Pferde hineinversetzen, kennt ihre Wünsche und Motive und weiß so, wo er mit der Suche beginnen muss, und meistens findet er sie auch nach wenigen Stunden.
An einem regnerischen Nachmittag erreichen wir Buena Vista, ein verschlafenes Städtchen. Wenn wir mit den Pferden in eine Stadt reiten, müssen wir auf die Gastfreundschaft und Hilfe der Bewohner hoffen, denn wir brauchen einen Platz für die Pferde. Diesmal ist es Bill, der uns hilft. Er lädt uns spontan zu sich ein, ruft seinen Freund Herold an, der uns wenige Minuten später abholt und auf seine Weide führt. Auf der ganzen Reise werden wir immer hilfsbereiten und freundlichen Menschen begegnen und dabei ein Amerika voller Offenheit und Gastfreundschaft kennenlernen. Wir bleiben zwei Tage. Eine willkommene Ruhepause für die Pferde. Für uns sind die Tage in der Zivilisation ausgefüllt mit jeder Menge Arbeit: Wäsche waschen, Ausrüstung reinigen und pflegen, die nächste Etappe planen und Proviant einkaufen.
Als wir Buena Vista wieder verlassen, kündigt sich bereits der Herbst an. Es ist deutlich kühler, die Blätter an den Espen haben sich goldgelb verfärbt, und die Farben der Natur erscheinen intensiver. Das ist der Beginn des Indian Summers, der schönsten Jahreszeit Colorados. Nur die Nächte sind kalt, eiskalt. Am Morgen ist alles mit einer Eisschicht überzogen, und sogar das Wasser in der Faltschüssel ist gefroren. Bei minus zehn Grad aufzustehen, das Lagerfeuer anzufachen, Frühstück zu kochen und die Pferde zu bepacken, verlangt viel gute Laune. Wann immer möglich warten wir, bis die Sonne unseren Zeltplatz langsam auftaut.
Der Winter vor der Tür
Beim Aufstieg auf den Two Ocean Pass werden die Abenteurer von Hagel und Schnee überrascht. © Günter Wamser & Sonja Endlweber
Langsam verändert sich die Landschaft. Sanfte Hügel und Wälder verdrängen die bisher steil aufragenden Berge. Wir reisen im Tempo der Pferde, folgen dem Takt der Hufe. Das schenkt uns viel Zeit, auch die Details zu betrachten, viel Zeit, etwas zu erfahren und zu erleben. Denn in der Langsamkeit liegt die Erlebnisdichte.
Einen der letzten Oktobertage verbringen wir im Zelt, denn seit dem Abend regnet es fast ununterbrochen, und wir haben beschlossen, bei diesem Wetter nicht weiterzugehen. Die Berge, die gestern im spätsommerlichen Sonnenlicht so sanft wirkten, sind heute Nebel verhangen. Es ist einer jener Tage, an denen man sich der Gewalt der Natur ausgeliefert fühlt, wo das Donnergrollen eines Gewitters und das Heulen der Kojoten noch bedrohlicher als sonst klingen. Unsere Pferde stehen seit 24 Stunden im Regen. Sie tun mir leid, obwohl ich weiß, dass sie es gewohnt sind, den Gewalten der Natur zu trotzen. Leni hat es besser. Sie liegt zusammengerollt in meinem Schlafsack. Die Wildnis zeigt sich heute von ihrer bedrohlichen Seite, rau und unbarmherzig. Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür, es ist Zeit, einen Platz zum Überwintern zu suchen, denn unser Weg führt auf 3000 bis 4000 Höhenmeter, und dort fällt im Winter jede Menge Schnee.
Im Bergbaudörfchen Creede lernen wir Rhonda und David kennen. Die beiden haben selbst Pferde und sind gerne bereit, uns und unsere Pferde für den Winter aufzunehmen. Wir wollen die Monate, die wir nicht mit ihnen unterwegs sein können, nutzen, um uns auf die Suche nach ihren Ursprüngen zu begeben. Zwei unserer Pferde stammen aus Wyoming, zwei aus Nevada. Wir wollen das Land erkunden, in dem Dino, Lightfoot, Azabache und Rusty aufgewachsen sind, wollen die Herden sehen aus denen sie stammen und das Verhalten der Wildpferde beobachten und fotografieren.
Symbol der Freiheit – die Wildpferde Amerikas
Es gibt nur noch sehr wenige Plätze auf der Welt, wo man Wildpferde beobachten kann. Etwa 30.000 Pferde leben auf den Prärien des Westens der USA. Seit 1971 stehen sie unter Schutz. In kleinen Herden ziehen sie über das weite, offene Grasland. Bereits in vorgeschichtlichen Zeiten lebten Wildpferde und Zebras auf dem amerikanischen Kontinent. Doch am Ende der letzten Eiszeit, vor etwa 10.000 bis 12.000 Jahren, starben sie aus. Mit den spanischen Eroberern kamen sie zurück auf amerikanisches Territorium und spielten eine wichtige Rolle bei der Eroberung des Westens.
Elchtest: Dieser unerwartete Auftritt schlug die Pferde in die Flucht. © Günter Wamser & Sonja Endlweber
Den ersten Kontakt mit Wildpferden haben wir im Black Hills Wild Horse Sancturary. Dort lebt ein Mann, der sein Leben, sein Land und sein Geld den Pferden geschenkt hat. Heute ist Dayton Hyde 83 Jahre alt. Als würde er den Jahren ein Schnäppchen schlagen, klettert er flink aus dem Traktor, mit dem er zuvor große Heuballen manövriert hat. „Vor 20 Jahren kam ich an Koppeln des Büros für Landmanagement vorbei. Sie waren vollgestopft mit wilden Mustangs, die unglücklich ihre Köpfe hängen ließen. Schon als kleiner Junge, als ich als Cowboy auf der Ranch meines Onkels in Oregon arbeitete, verliebte ich mich in diese Wildpferde. Sie in so trostlosem Zustand zu sehen, brach mir das Herz. Ich wollte wenigstens einem Teil von ihnen ein neues Zuhause geben.“ Etwa 500 Pferde leben heute auf dem weiten Gelände des Black Hills Wild Horse Sancturary.Einige hundert Meilen weiter westlich, am Weg zum Yellowstone Nationalpark, kommt man an einer unauffällig Hügelgruppe vorbei, den Mc Cullough Peaks. Mit etwas Glück und gutem Auge kann man dort Wildpferde entdecken. Im kommenden Frühjahr werden diese jungen Hengste losziehen und versuchen, einen eigenen Harem zu gründen. Die Mc Cullough Peaks sind die Heimat von unserem Pferd Dino, hier hat er die ersten Jahre seines Lebens verbracht. Hier kam er auf die Welt, lebte in einer großen Herde und lernte das Sozialverhalten der Pferde. Die Abendsonne taucht die Prärie in warmes, weiches Licht. Sie schmeichelt den Farben der Wüste, lässt sie in Rot und Ockergelb leuchten. Auf dem rissigen, trockenen Boden wachsen Büffelgras, wilder Salbei und Kakteen, stachelige, feindliche Gewächse. Mitten in dieser öden Landschaft grast eine Herde Wildpferde. Vierzig, vielleicht fünfzig Tiere. Ein warmes Farbengemisch von Schwarz über Grau und Braun bis Weiß. Ihre stolze Anmut steht im Kontrast zur Kargheit und Monotonie des Landes. Lautlos bewegen wir uns auf sie zu, in großen Schlangenlinien, um die Pferde nicht zu erschrecken. Es sind muskulöse, kraftvolle Tiere mit wilden Mähnen und feurigen Augen. Wie auf Kommando heben die Pferde ihre Köpfe und starren uns an. Für einige Minuten verharren sie reglos, beobachten uns aus wachsamen Augen. Ein Hengst trabt einige Schritt nach vorne, posiert vor den Stuten, bereit, seinen Harem gegen jede Bedrohung zu verteidigen. Seine starken Brustmuskeln sind angespannt, die Nüstern gebläht, die schwarzen Augen funkeln. Ich hebe meine Kamera und fokussiere, genug für den misstrauischen Anführer, seinen Stuten das Zeichen zur Flucht zu geben. In Sekundenschnelle verschwindet die große Herde unter dem Donnern der Hufe in der Weite der Prärie Wyomings, nichts hinterlassend als eine Staubwolke und ein Gefühl unbegrenzter Freiheit. Wenigstens ein Stückchen dieser Freiheit wollen wir unseren Pferden auf unserer Reise zurückgeben.
Elf Jahre im Zeitraffer
Die Reise von Argentinien bis Mexiko – 20.000 km zu Pferd durch Süd- und Mittelamerika
An der Südspitze Amerikas liegt das maßlose Nichts. Maßlos in Weite und spröder Schönheit. Dort nahm die Reise Günter Wamsers ihren Anfang. In Patagonien, einem Land der Extreme, geprägt vom Jahrtausende alten Eis, von hohen Bergspitzen und endloser Steppe.Auf chilenischem Staatsgebiet liegt der erste Höhepunkt, der Nationalpark Torres del Paine, eine der schönsten Gebirgsformationen der Welt. Wie Türme ragen die über 3000 Meter hohen, schneebedeckten Gipfel in den Himmel. Die raue Schönheit des Parks ist geprägt vom starken Wind Südchiles. So wachsen Bäume nicht senkrecht in die Höhe, sondern entwickeln sich, vom darüberjagenden Wind geformt, in der Horizontalen.
Ausgangspunkt der Reise ist Ushuaia, die südlichste Stadt der Welt, nahe dem sturmgepeitschten Kap Horn.Vom Verwalter der Estancia Maria Behety erstand Günter Wamser zwei Criollos, die er allerdings erst zureiten musste. Nach fünf Wochen Training ging es los, mit einer großen Portion Leichtsinn und Selbstvertrauen im Gepäck, startete der Abenteurer Richtung Norden, hinein in ein unbekanntes Land. „Wir sind auf dem Weg nach Alaska“, schrieb Günter an diesem Abend in sein Tagebuch. Die vollkommen ebene Steppenlandschaft Südargentiniens, in der der Horizont als vage Linie in unendlicher Ferne vor dem Auge flimmert, scheint deutlich machen zu wollen, wie endlos lange dieser Weg noch ist. Ein Mann, der sich auf eine solche Reise begibt, muss die Einsamkeit lieben. Als Weggefährten hat er nur seine Pferde und seinen Hund Falko.
Bolivien zeigte sich zunächst von seiner rauen Seite. Die trockene, eintönige Gegend ist geprägt von der roten, ausgewaschenen Erde. Selbst die Häuser sind aus dieser Erde gebaut und scheinen dadurch mit dem Boden zu verschmelzen. Nur vereinzelte Kakteen trotzen der Trockenheit und Kälte des Altiplanos – der Hochebene Südamerikas. Die Menschen hier auf über 2000 Metern Meereshöhe leben von den wenigen Tieren, Schafe, Ziegen oder Esel, die sie besitzen und die von den Kindern am Wegrand gehütet werden. Bekleidet mit einem Poncho und einer Wollmütze, aber barfuss, trotzen sie der oft grimmigen Kälte.
Ab Ecuador ändert sich die Reise. Günter war des alleine Reisens schon lange überdrüssig, ab Ecuador begleitete ihn Barbara Kohmanns. Mit vier Pferden – in Wahrheit waren es fünf, doch das sollte sich erst später herausstellen – folgten sie nun dem alten Inka-Trail. Diese alte Inkastraße führte einst über 5000 km durch die Anden, vom heutigen Santiago de Chile bis nach Quito. Manche Wegstücke sind noch heute mit den großen quadratischen Steinen gepflastert. Ecuador ist mit seinen über 5000 Meter hohen Vulkangipfeln, dem Amazonasregenwald, der Hochebene und der Küstenlandschaft eines der vielfältigsten Länder Südamerikas. Auch Sümpfe gehören zur landschaftlichen Vielfalt. In einem dieser wäre Gaucho beinahe versunken. Das sonst so verlässliche Pferd hatte die Festigkeit des Bodens unterschätzt und war bis zum Bauch eingesunken. Unter Einsatz aller Kräfte kämpfte Günter um sein Pferd. Mit einer großen Machete schlug er Stufen in den Morast. Erst nach mehrmaligen mühsamen Versuchen gelang es, Gaucho zu befreien.
Mit einem spektakulären Flug, bei dem Günter das Beruhigungsmittel lieber sich selbst als den Pferden gespritzt hätte, verlassen Günter und Barbara Südamerika, überfliegen das zu dieser Zeit gefährliche Kolumbien und landen in Panama, dem Land von dem der Schriftsteller Janosch erzählt, dass es nach Bananen riecht.
Mittelamerika wartet mit vielen neuen Eindrücken und auch neuen Herausforderungen auf. Panama, Costa Rica, Nicaragua, Honduras, El Salvador und Guatemala – viele Länder bedeuten viele Grenzübertritte, bürokratische Formalitäten und korrupte Grenzbeamte. Aber auch das tropische Klima und der Monsunregen, der eine unglaubliche Farbenpracht hervorbringt, machen der Truppe zu schaffen. Die Hitze und die tropischen Insekten sind eine Qual für Mensch und Tier. Doch auch einer der schönsten Teile der Reise liegt in dieser Region, der Lago de Nicaragua, der zweitgrößte See in den Tropen. An seinen menschenleeren Standstränden entlangzureiten, jederzeit ein kühlendes Bad im meerähnlichen See nehmen zu können und die frische Brise machten diesen paradiesischen Abschnitt zu einem wunderbaren, unvergesslichen Erlebnis.
Nach elf Jahren und 20.000 Kilometern erreicht die Gruppe schließlich Mexiko. Jedes Land riecht anders. Doch nirgends war dieser Eindruck so stark wie in Mexiko. Mexiko roch nach Chili und nach Feuer, nach temperamentvollem Leben, nach Musik. Mexiko zeigte sich von seiner Bilderbuchseite: Männer mit hellen, breitkrempigen Cowboyhüten und Hosen mit überdimensionalen Gürtelschnallen. Mexiko war Ziel der gemeinsamen Reise von Barbara und Günter. Barbara wollte zurück nach Deutschland, Günter jedoch weiter nach Alaska. Die Einreisebestimmungen in den USA machten die Weiterreise mit denselben Pferden unmöglich. Günter, der nicht umsatteln wollte, musste seine Reise abbrechen. Entmutigt und enttäuscht kehrte er zurück nach Deutschland.
Doch lange hielt es den Abenteurer nicht zu Hause. Keine amerikanische Bürokratie kann ihn von seinem Ziel Alaska abhalten. Zu viel Abenteuerlust steckt in diesem Mann, als dass er sesshaft werden könnte. Und diese Abenteuerlust ist faszinierend und ansteckend.
Zum Weiterlesen
Günter Wamser erzählt in „Der Abenteuerreiter“ seine ganz persönliche Geschichte seiner elf Jahre dauernden Reise zu Pferd von Argentinien bis Mexiko.
Der Abenteuerreiter – In elf Jahren mit Hund und Pferden von Feuerland nach Mexiko
Günter Wamser
384 Seiten, 32 Seiten Farbfotos,
Hardcover, ISBN 978-3-00-021527-8,
19,90 Euro
erhältlich über www.abenteuerreiter.de
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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1/2010 erschienen. Pferderevue AbonnentInnen können ihn zusammen mit über 40.000 weiteren in unserem Online-Archiv kostenlos nachlesen. Einfach unter Service/Online-Archiv einloggen und in allen Heften aus 25 Jahren Pferderevue zum Nulltarif blättern!
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