Training

Besser reiten mit Neuroathletik

Ein Artikel von Claudia Götz | 02.08.2022 - 14:03
seite9_imgv_t2_605.jpg

Eine vibrierende Einwegzahnbürste am Oberarm verbessert die Warnehmung. Die Folge: Die Reiterin kann ihren Arm besser steuern. © Anna Auerbach | KOSMOS

Der Österreichische Pferdesportverband hat Neuroathletik für seine Spitzenathlet:innen 2021 entdeckt. Zusammen mit Bundestrainer:innen lernten sie im Bundesleistungszentrum Warendorf (GER) vom Begründer des Neuro-Rider-Trainings, Marc Nölke, das Konzept kennen, bei dem man im Pferdesport individuell jene Gehirnareale trainiert, die für Stabilität, Rhythmusgefühl und Bewegungspräzision im Sattel sorgen. Dadurch kann man seine Beweglichkeit und Körperhaltung verbessern sowie Ängste und Unsicherheiten abbauen. DI Rosi Schreiber-Jetzinger, staatlich geprüfte Reitlehrerin und Bewegungstrainerin nach Eckart Meyners aus Niederösterreich hat die Neuroathletik-Ausbildung schon 2018 gemacht und ist begeistert: „Ich kann damit an Punkten ansetzen, die ich mit klassischem Unterricht nicht erreiche.“ Schreiber-Jetzinger bietet bei sich auf ihrem Hof in Bierbaum am Kleebühel Einzelcoachings und Kurse in Neuroathletik. Weitere österreichische Trainerinnen sind derzeit in Ausbildung.

01_01_cover_12_.jpg

Marc Nölke © Anna Auerbach | KOSMOS

Warum Neuroathletik?

Wir sind nicht nur in Bezug auf unseren Stoffwechsel und unsere Psyche noch im Modus unserer Vorfahren aus der Steinzeit, auch unser Bewegungsapparat hat sich über Jahrmillionen an ein Leben mit viel Bewegung – und zwar auf vielfältige Art – angepasst. „So wurde der Körper nicht nur optimal trainiert, er hatte auch Gelegenheit zu regenerieren“, erklärt Nölke. „Diese Bewegungsvariabilität ist in unserer modernen Welt nahezu verschwunden. Der Mensch bewegt sich deutlich weniger. Neuroathletik bietet die Möglichkeit, viel allgemeine Bewegung durch spezielle starke Stimuli zu ersetzen und damit individuell Problemen entgegenzusteuern.“ 

Verschiedene Sportarten haben unterschiedliche neuronale Anforderungsprofile. Beim Reitsport stehen die Lage, Haltung und Relation des Körpers zur Umwelt im Vordergrund. Dafür brauchen Reiter:innen eine gute reflektorische Stabilisierung – das ist die Fähigkeit des Körpers, bei Störungen von außen in der Balance zu bleiben. Anfänger nehmen diese Herausforderung sogar noch wahr, wenn das Pferd aus dem Halten antritt. Mit fortschreitender Ausbildung spürt man dann eher bei Sprüngen, Bucklern oder wenn das Pferd stolpert, wie wichtig diese Fähigkeit im Sattel ist. „Die Reaktion darauf erfolgt unwillkürlich, denn es würde viel zu lange dauern, wenn man eine Lageänderung bewusst analysieren müsste, um dann etwa aktiv den linken Rückenstrecker zu verkürzen“, erklärt Nölke.

01_34_imgv_t2_1687.jpg

Im einbeinigen Stand wird die Balance getestet – nach drei Sekunden war der Test auch schon wieder vorbei. © Anna Auerbach | KOSMOS

Die neuronalen Prozesse dahinter sind gut erforscht, und es ist bekannt, dass hierbei vor allem unser visuelles System eine wichtige Rolle spielt. Dabei ist die Grundinformation unserer Augen für unser Gehirn, ob und wie sich der Horizont verändert. Das Gleichgewichtssystem, über das unser Körper verfügt (mit den Bogengängen im Innenohr, im Gefäßsystem und sogar den Nieren, wie experimentell gezeigt wurde) erfasst Beschleunigungen und Erdanziehung. „Dieses vestibuläre System klärt, wo oben und unten ist und detektiert so beim Reiten beispielsweise beständig Beschleunigungen in der Vertikalen, also Auf-und-nieder-Bewegungen“, so Nölke. Zudem findet auch beim Reiten Orientierung über die Propriozeption statt: Dieses dritte Wahrnehmungssystem unseres Körpers erfasst die Relation der Gelenke zueinander und im Raum über Rezeptoren, die vor allem in der Haut und der Muskulatur sitzen.

kosmos_neuroathletik_reiter.jpg

Unser Gehirn empfängt Input, bearbeitet ihn und produziert Output. © Cornelia Koller | KOSMOS

So arbeitet unser Gehirn

Unser Gehirn befasst sich - auch wenn wir im Sattel sitzen - mit drei Dingen: Input empfangen, bearbeiten und Output produzieren. Dies passiert permanent in einem sich selbst neu erschaffenden Kreislauf. „Das Gehirn will immer verhindern, dass wir umfallen. Dafür werden die von den Systemen gemeldeten Eindrücke umgewandelt in Ausgleichsmaßnahmen die uns in Balance halten“, erklärt Nölke. „Dies funktioniert am besten, wenn alle drei Systeme optimal und störungsfrei und vor allem integriert arbeiten.“

Liegen Funktionsstörungen vor – etwa durch alte Unfälle und daraus resultierende Narben, durch Verletzungen und daraus entstandene Verspannungen oder nach Gehirnerschütterungen – sind sowohl die Wahrnehmung als auch die Ausgleichsmaßnahmen des Körpers beeinträchtigt. Man sitzt schief, ist nach einer Seite eingeschränkt, hat eine deutlich schwächere Hand oder kann ein Bein oder einen Fuß nicht so einsetzen oder halten wie den anderen. „Im schlimmsten Fall nehmen wir gar nicht wahr, dass wir schief sind“, so Nölke.

Auffällig ist laut dem ehemaligen Leistungssportler, der auch schon Österreichs und Polens beste Skispringer und Nordische Kombinierer mit Neuroathletik trainierte, dass viele Reiter:innen vestibuläre Defizite haben, also Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Seine Theorie dazu: „Es zieht uns intuitiv zu den Dingen, die wir brauchen, um uns gut zu fühlen, die uns stärken. Beim Reiten bekommen Menschen einen starken Input für das vestibuläre System, ohne dass sie selber laufen oder springen müssen.“ Gleichzeitig nehmen mit dem Alter auch bestehende vestibuläre Probleme zu und erschweren das Reiten. Neuroathletik kann uns helfen, mit diesen Problemen besser klarzukommen und unser Reiten zu verbessern. Denn die Hilfen können nur aus einem stabilen Sitz heraus fein und effektiv gegeben werden. „Ist ein Körper nicht stabil, ist es schwierig, Gliedmaßen präzise zu bewegen – also Hilfen zu geben und mit dem Pferd zu kommunizieren“, fasst Nölke zusammen. „Probleme im Gleichgewichtsbereich wirken sich auf die anderen Systeme aus, da alle anderen Gehirnbereiche von diesen Informationen abhängig sind, denn das vestibuläre System ist das älteste Sinnesorgan, da alle Lebewesen im Schwerefeld der Erde der gleichen Kraft ausgesetzt sind.“

Die Effekte des Neuro-Rider-Trainings

Schaut man sich die Übungen des Neuro-Rider-Programms an, wirken die meisten wie ganz normale Gymnastik – Schulterkreisen etwa. Was die Neuroathletik von ganz normaler Gymnastik unterscheidet, sind ihre Extras. Das sind zum einen die Fokuspunkte jeder Übung und zum anderen der Ablauf: Zuerst wird eine Übung als Test durchgeführt, danach wird eine weitere Übung – ein sogenannter Drill – absolviert, die dazu geeignet ist, motorische Fähigkeiten zu verbessern, und zum Abschluss wird erneut der Test absolviert. Dieser Re-Test zeigt dann, ob und was sich durch den Drill verändert hat und gibt so Hinweise, welche Übungen individuell sinnvoll sind.

„Durch die Fokuspunkte richtet sich bei jeder Übung die Aufmerksamkeit auf das, was man gerade tut“, erklärt Nölke. „Diese Achtsamkeit wiederum erhöht das neuronale Lernen dramatisch. Dadurch verbessert sich die Landkarte im Gehirn für die jeweilige Bewegung, mit dem Effekt, dass sich auch die Durchblutung und die Ansteuerbarkeit der entsprechenden Muskeln steigert.“

Bei den bereits erwähnten Schulterkreisen liegt der Fokuspunkt auf der Bewegung im Schultergelenk – und dass sie nur dort stattfindet. Gefordert ist zudem mit den Augen in Richtung des bewegenden Arms zu schauen und große, gleichmäßige Kreise zu erzeugen. Wie alle Tests und Drills des Neuro-Rider-Programms dient sie dazu, herauszufinden, wie viel Bewegungsweite einem sein Gehirn momentan erlaubt, und ob es Seitenunterschiede gibt.

03_90_imgv_t1_1713.jpg

Die Schulterkreise sollen gleich groß sein. © Anna Auerbach | KOSMOS

Ein gutes Beispiel, wie sich mit dem Neuro-Rider-Programm Probleme an der Wurzel packen lassen, ist laut Schreiber-Jetzinger das Reiten von Wendungen: „Häufig funktionieren Wendungen auf einer Hand deutlich schlechter. Zugrunde liegt oft eine Störung des visuellen Systems, bei dem ein Auge dominanter ist als das andere. Das führt dazu, dass man den Blick und damit die Linie nicht halten kann. Trainiert man die Augen anstelle des Körpers, löst man die Ursache, anstatt Symptome zu korrigieren.“

Doch nicht nur motorische und technische Fortschritte sind möglich – auch Emotionen wie verschiedene Ängste lassen sich durch Neuroathletik bearbeiten. „Angst ist ein Thema im Reitsport, über das viele Reiter nicht gerne sprechen“, sagt Nölke. „Angst überträgt sich auf das Pferd, lässt uns übertrieben reagieren und uns manchmal seltsame Dinge tun – unter denen oft das Pferd leidet. Angst ist aber auch ein sinnvolles Warnsignal unseres Körpers, das wir durchaus ernst nehmen sollten.“

Wenn wir etwa einen Beinbruch hatten und danach Angst haben aufs Pferd zu steigen, kann das ein wertvoller Hinweis sein, dass wir die Fähigkeit, ein Pferd zu reiten noch nicht wieder erworben haben. Dann hilft auch hier laut Nölke, die Gelenke über Übungen gezielt anzusteuern, sie so zu mobilisieren und dem Gehirn bessere sensorische Informationen zu liefern, die dann auch die Angst schwinden lassen können.

Ein weiterer wichtiger Aspekt besonders bei der Angst – aber grundsätzlich auch bei allen anderen Übungen des Neuro-Rider-Programms – ist die Atmung. Nicht genügend oder falsch zu Atmen ist ein weit verbreitetes Problem und macht besonders dann Schwierigkeiten, wenn wir ohnehin schon Probleme mit einer Lektion, einer Gangart einem Hindernistyp oder einem bestimmten Pferd haben. Deshalb sind auch Atemübungen ein wichtiger Teil der Neuroathletik.

01_30_imgv_t1_4343.jpg

Atemübungen sind essentieller Teil des Neuro-Rider-Programms. © Anna Auerbach | KOSMOS

Tipps zur Umsetzung

Nölke fasziniert dieser ganzheitliche Zugang zu Training ebenso wie die effektive Möglichkeit Menschen zu helfen. Im Weg steht ihm dabei lediglich, wie der/die Einzelne die Möglichkeiten umsetzt und in den Alltag bzw. sein/ihr Training integriert. „Die meisten Menschen unterschätzen massiv, was sie in einem Jahr erreichen können, wenn Sie langsam anfangen und sich langsam steigern. Gleichzeitig überschätzen fast alle, was in einem Monat geschafft werden kann. Und diese Diskrepanz lässt viele früh wieder aussteigen. Wenn ich in der ersten Woche jeden Tag einen Liegestütz mache und in der zweiten zwei usw. dann bin ich innerhalb eines Jahres bei 52 Liegestützen am Stück“, erklärt Nölke. Auf diese Art kann man wahnsinnig viel erreichen. Viel mehr, als wenn man sich anfangs überfordert und dadurch die Motivation verliert. Wer keine Möglichkeit zu einem Kurs hat, dem helfen sicher die Videos zu dem Buch (siehe Kasten). Zudem bietet Nölke auch Online-Kurse an.

Auch Schreiber-Jetzinger weiß, welche Hindernisse Reiter:innen beim Einstieg in das Training zu bewältigen haben: „Man muss bereit sein, sich mit sich selbst zu beschäftigen – und man muss sich etwas Zeit dafür nehmen. Anfangs braucht man die Geduld, die individuell passenden Übungen zu finden – oft nur eine oder zwei. Und dann muss einem klar sein, dass das Gehirn zwanzig Stunden Übungszeit braucht – idealerweise verteilt auf täglich drei bis fünf Einheiten je ein bis zwei Minuten –, bis es die Veränderung neuronal integriert hat.“

Die über den Tag verteilten Mini-Einheiten dürfen auch in der Werbepause vor dem Fernseher stattfinden, falls der stummgeschaltet ist und die Aufmerksamkeit wirklich dem Training gilt. Einer Vielfahrerin riet Nölke, jede Pause mit dem Auto fürs Training zu nutzen – mit durchschlagendem Erfolg. Die Mittagspause oder das Umkleiden zum Reiten können ebenfalls Anlass für eine Trainingseinheit sein.

Wichtig ist, sich bei den Übungen nie in einen Schmerz hinein zu bewegen. Das Tempo sollte langsam sein, bei manchen Übungen sogar in Zeitlupe. Laut Nölke ist ein großes Augenmerk darauf zu richten, beim Training und auch beim Reiten nicht unterzuckert zu sein. Schon ein, zwei Gläser Fruchtsaft können hier schnelle Abhilfe schaffen. Dann fällt das Resümee zu dieser Art Training vielleicht ebenso positiv aus, wie das der OEPS-Talente-Team-Mitglieder, die Schreiber-Jetzinger per Zoom geschult hat: „Es war toll, dass wir Neuroathletik kennengelernt haben. Wir werden es weitermachen und sind uns sicher, es wird uns in unserer Entwicklung helfen.“

Buchtipp

Mit diesem Buch wird man ein besserer Reiter, ohne dafür Reiten zu üben. Denn Neuroathletik verbessert die Reittechnik durch Übungen fürs Gehirn. Die Methode des Erfolgstrainers Marc Nölke trainiert gezielt jene Gehirnareale des Reiters, die für Stabilität, Rhythmusgefühl, Bewegungspräzision und die Sehzentrale zuständig sind. So werden Beweglichkeit und Körperhaltung verbessert, Muskelprobleme gelöst, die Konzentrationsfähigkeit gestärkt und sogar Ängste und Traumata überwunden. Die 62 Magic-Übungen können durch Fotoanleitungen und zusätzliche Videos auf der KOSMOS-PLUS-APP leicht umgesetzt werden. Danach fühlt man sich auf dem Pferderücken leichter und selbstverständlicher und wird effektiver und entspannter reiten.

Neuroathletik für Reiter: Das Neuro-Rider-Trainingsprogramm
Marc Nölke, Kosmos Verlag
160 Seiten mit 330 Farbfotos und 8 Farbzeichnungen
Preis: 28 Euro
bestellen