Training

Schieben lernen

Ein Artikel von Claudia Götz | 06.02.2025 - 10:51
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Krätiges Abfußen hinten, freie Schulter und freier Hals: gute Schubkrat in Aktion. © Slawik.com

Hört man Reiter:innen diskutieren, bekommt man vielfach den Eindruck, Tragkraft wäre gut und Schubkraft schlecht, die Pferde müssten „vom Schieben ins Tragen kommen“. Dabei wird häufig ein ganz wichtiger Aspekt außer Acht gelassen: Auch die Schubkraft muss erst entwickelt werden – laut Skala der Ausbildung vor der Tragkraft. Dass diese Entwicklung der Schubkraft mit vielen Fehlern behaftet sein kann, erkennt man auch daran, dass im entsprechenden Kapitel der FN-Richtlinien vor allem die dabei auftretenden Anlehnungsprobleme von „hinter der Senkrechten“ über „hinter, auf, gegen den und über dem Zügel“ bis zum „falschen Knick“ detailliert beschrieben werden. Was die Schubkraft genau ist, wird hingegen nicht erklärt.


Was kommt vor Schieben und Tragen?

Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen – die Schubkraft bewegt das Pferd nach vorne, die Tragkraft macht es leicht in seinen Bewegungen. Wenn das Pferd sich mit den Hinterbeinen vom Boden abdrückt, dann wirkt Schubkraft. Durch Schubkraft kann das Pferd mit der Hinterhand weiter in Richtung Schwerpunkt fußen. Befindet sich ein Hinterbein in der Stützbeinphase, dann wirkt Tragkraft. Für mehr Tragkraft muss das Pferd den tragenden Moment in der Stützbeinphase der Hinterbeine verlängern. Studien zeigten, dass dabei eine Art Abbremsphase entscheidend ist, die vom Moment des Bodenkontakts an bis zu 45 Prozent des Stützens ausmacht. Eine größere Dauer und Intensität der Abbremsphase bedeutet ein Plus an Tragkraft und damit mehr Leichtigkeit.

Wenn die Rede davon ist, dass Schub- und Tragkraft erst entwickelt werden müssen, dann heißt das nicht, das das Pferd sie nicht von Anbeginn hat, sondern dass sie für den Reiter erst zur Verfügung stehen, wenn er das Pferd entsprechend ausgebildet und trainiert hat. Das Pferd muss auch im Laufe seines Wachstums immer wieder neu lernen, wie es den von seinen Hinterbeinen erzeugten Schub vor allem durch die Rücken- und Bauchmuskeln in ein Vorwärts umwandeln kann und dabei im Gleichgewicht bleibt. Wer schon einmal gesehen hat, wie oft Fohlen wegrutschen oder wie sehr Wachstumsschübe ein junges Pferd aus dem Gleichgewicht bringen können, der versteht besser, welch anspruchsvolle Anforderung dies für Pferde ist, die erst kurz unter dem Sattel sind. Auch neue Lektionen – egal ob Über- oder Seitengänge – bringen es mit sich, dass das Pferd sich mit der sich entwickelnden Schub- und Tragkraft neu befassen muss. Hat man das verstanden, wird auch klar, warum es laut der Ausbildungsskala für die Entwicklung der Schubkraft zuerst einmal Losgelassenheit braucht und auch die Geraderichtung wichtig ist, und bei der Ausbildung der Tragkraft Schwung und Versammlung eine Rolle spielen.

Das Pferd muss im Laufe seines Wachstums immer wieder neu lernen, wie es den von seinen Hinterbeinen erzeugten Schub vor allem durch die Rücken- und Bauchmuskeln in ein Vorwärts umwandeln kann und dabei im Gleichgewicht bleibt.


Ziehen erschöpft den Trageapparat

Wenn es an Schubkraft mangelt oder diese noch nicht entwickelt ist, bewegt sich das Pferd vielfach nicht nur mit der Kraft seiner Hinterbeine vorwärts, sondern nutzt bei jedem einzelnen Schritt vermehrt die Vorhand, um sich mit Hilfe seiner Vorderbeine in die Bewegung und in den jeweils nächsten Schritt zu ziehen. Manchmal hört oder liest man in diesem Zusammenhang auch den Begriff Stemmen. Das ist der Anteil im Bewegungsablauf des Ziehens, der oft deutlicher sichtbar wird ist – eine einheitliche Definition gibt es noch nicht. Immer aber übernimmt die Vorhand Arbeit, die im Hinblick auf langfristige Gesunderhaltung von der Hinterhand und der Übertragung der Energie über die Muskelketten des Rumpfes geleistet werden sollte. „Spätestens mittelfristig bedeutet das für die Pferde Schmerzen, da in Mustern solcher Art zunächst der stoßdämpfende Rumpftrageapparat verspannt, dadurch die Zehenregion der Vorhand durch die ungebremsten Kräfte schneller degeneriert, und dann auch der restliche Körper Schaden nimmt“, so Dr. Sandra Ruzicka. Die Trainerin, Hufbearbeiterin, Pferdephysio- und Verhaltenstherapeutin ist Autorin des Buches „Trageerschöpfung beim Pferd“ (Müller-Rüschlikon 2023, 208 Seiten, Hardcover 26 Euro, ISBN: 978-3275022830) und beschreibt das Bewegungsmuster Ziehen als typisch für trageerschöpfte Pferde.

Ziehen erkennen

Diese weiteren Kriterien helfen, ungesunde Bewegungsabläufe und -muster und deren Folgen zu erkennen.

  • Müdigkeit: Manchmal tritt das Ziehen erst auf, wenn die Pferde überbeansprucht werden. Das kann man unter anderem daran erkennen, dass sie den Rücken wegdrücken, mit dem Kopf hochkommen, die Anlehnung unstet wird, sie sich auf die Hand legen und/oder sich Taktverluste oder Stolpern einstellen.
  • Zittern: Hält man das Pferd in so einem Moment an, bemerkt man oft ein Zittern der Vorderbeine, ein- oder beidseitig. In der Regel nimmt man es Zittern als eine Art Schlackern im Vorderfußwurzelgelenk war. Muskelzittern ist immer ein Ausdruck der Überlastung – in diesem Fall der Muskelkette von Unterarm, Oberarm und Schulterschlinge.
  • Nicken eingeschränkt: Pferde, die sich stark über die Vorhand ziehen, nicken im Schritt weniger oder zeigen ein im Genick überstrecktes Nach-Vorne-Nehmen der Nase.
  • Ballentritte: Vor allem Pferde mit viel Übertritt der Hinter- über die Vorderhufe treten sich mit der Hinterhand an die Eisen oder Ballen der Vorderhufe, wenn sie vermehrt ziehen, da die Vorhand quasi hängenbleibt.
  • Festes Schulterblatt: Bei einem freien Übergang von der Hals- zur Brustwirbelsäule ist das Schulterblatt beweglich und man kann mit der Hand gut dahinter gleiten (siehe Foto). Bei einem Pferd, das mit seiner Vorhand viel Zieharbeit leistet, verklebt dieser Zugang immer mehr. Die Pferde möchten dann an dieser Stelle oft nicht mehr angefasst werden.
  • Überbaut: Ein Pferd, dessen Vorhand Mehrarbeit leistet, entwickelt oft eine überbaut wirkende Kruppe, häufig auch mit sehr prominenten Darmbeinhöckern.
  • Verspannter Oberarm-Kopf-Muskel (M. brachiocephalicus): Der wichtigste Vorführer der Vordergliedmaße und Gegenspieler des breiten Rückenmuskels (M. latissimus dorsi) verspannt auch, wenn das Pferd sich über die Vorhand nach vorne zieht.
  • Vorbiegigkeit: Werden die Strukturen dauerhaft überlastet, entwickeln Pferde manchmal sogar ein- oder beidseits vorbiegige Karpalgelenke.
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Die Dreiecke, die Vorder- und Hinterbeine bilden, sind nicht gleich groß: Dieses Pferd zieht. © www.Slawik.com

Zu viel Vorwärts verschleißt die Vorhand

Anders ausgedrückt: Wird das Ziehen nicht ersetzt durch Schieben und Tragen, führt dies in vielen Fällen zu einer Trageermüdung oder -erschöpfung. Seit gut 15 Jahren verbreiten sich diese Begriffe zur Beschreibung eines Problems, das man schon sehr viel länger kennt. So beschreibt Rudolf G. Binding in seiner berühmten „Reitvorschrift für eine Geliebte“ wie ein korrekt gehendes Pferd aussehen soll: „Der Hals wird lang, frei und leicht getragen und wächst zwischen aufrechten, eng an den Leib anliegenden Schultern empor, die von der Macht des Rumpfes nicht auseinandergepresst werden.“ Passiert letzteres, hängt also der Brustkorb zwischen den Schulterblättern, handelt es sich um ein aus dem Gleichgewicht gebrachtes Pferd, das mit seiner Vorhand nicht die von der Natur vorgesehenen Bewegungsabläufe ausführen kann, und dessen Körper darunter leidet.

Ruzicka ist überzeugt: „Eine Ursache für verschleißende Bewegungsmuster ist ein falsch verstandenes, zu frühes und schnelles Vorwärts. Übertriebene Vorwärtsreiterei bringt das Pferd in Schwierigkeiten, weil durch die Geschwindigkeit der Körper deutlich mehr belastet wird, wenn er noch nicht im Gesamtsystem losgelassen schwingt“. Der gesamte Sehnenapparat der Vordergliedmaße und die Muskelkette der Vorhand werden beim Ziehen und Stemmen bis in die Schulter hinein bei jedem Schritt übermäßig belastet. „Das betrifft die unphysiologische Durchfesselung ebenso wie den Moment des Auffußens, der durch die entstehende flache Bewegung ebenfalls nicht optimal ist“, erklärt Ruzicka. Erkennbar ist etwa, dass eine vollständige Streckung des Beins, die naturgemäß vor Bodenkontakt erfolgt, erst beim Auftreffen erfolgt, was die Stoßdämpfung verschlechtert und Folgeprobleme nach sich zieht. „Die Fußungsbögen sind nach hinten verlagert“, beschreibt Ruzicka das entstehende Bild. In welchem Teil der Vorhand das Pferd dann überlastet – ob am Fesselträger oder im Bereich der Hufrolle – hängt davon ab, wie lange das Problem besteht, wie gravierend es ist und mit welchen gesundheitlichen Themen sich das Pferd sonst noch auseinandersetzen muss.

Besser umlernen als kompensieren

Für Kira Schuschnigg, Pferde-Sport-Therapeutin aus Ramsau in Niederösterreich, ist aber klar: „Wird die Vorhand überlastet oder biomechanisch falsch belastet, muss das Pferd diese Fehler kompensieren: Es ist gezwungen, Muskeln zu benutzen, die nicht dafür gedacht sind – und das ist in der Regel die Schulterschlinge.“ Denn den Rumpf tragen beim Pferd nur Muskeln – es gibt kein stabilisierendes Schlüsselbein. „Die Schulter muss aber frei sein, damit der Rumpf frei schwingen kann“, so Schuschnigg. Berücksichtigt man das nicht, stellen sich unterschiedliche Probleme ein: „Lahmheiten der Vorhand können daraus ebenso entstehen wie Arthrosen im Bereich des Übergangs der Hals- in die Brustwirbelsäule.“ Diese Fehl- und Überlastung ist aber nicht nur schlecht fürs Pferd, sie zieht weitere Konsequenzen nach sich, denn „Diagnostik und Therapie in diesem Bereich sind schwierig. Und wenn die bestehenden Blockierungen und Verspannungen gelöst wurden, steht als erste Rehamaßnahme auf dem Programm, die muskulären Ungleichgewichte und alten Bewegungsmuster zu ändern.“ Das erfordert von Reiter:innen und Pferden viel – oft ein totales Umlernen.

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Ist der Schaden angerichtet, kann z. B. das Podest helfen, die Schulterschlinge zu lockern. © Claudia Götz

Reiten hilft nicht immer

Schuschnigg empfiehlt zum Training „alles was den Brustkorb anhebt und das Gleichgewicht und die Raumwahrnehmung fördert: Seitengänge, wenn der/die Reiter:in sie beherrscht – erst in untertourigem Tempo im Schritt beibringen, dann auch in höheren Gangarten –, Stangenarbeit zum Beispiel in U-förmigen Doppelgassen.“ Aber es geht ihrer Beobachtung nach noch einfacher, wie sie beim Unterricht der Pferdewirtschaftsschüler:innen an der Landwirtschaftlichen Fachschule Winklhof festgestellt hat: „Wenn ich wirklich viele Übergänge reiten lasse – innerhalb aller Gangarten und zwischen den Gangarten – in ganz kurzen Reprisen, zwei, drei Schritte, Tritte oder Sprünge und dann schon wieder einen Übergang – dann werden die Schulpferde innerhalb weniger Minuten nicht nur sehr durchlässig, sondern auch ihre Mobilität steigert sich. Auch das noch ungeübte Auge der Schüler:innen kann sofort den Unterschied – etwa mehr Beweglichkeit im Becken – feststellen.“ Ansonsten empfiehlt sie, schon den Schritt beim Aufwärmen zu nutzen, um das Pferd zu arbeiten, natürlich anfangs am möglichst hingegebenen Zügel. Das ist wichtig, da man so das Kopfnicken sicher zulässt. Das Nicken nimmt Gewicht von der Vorhand, wie eine Studie zeigte. Dadurch kann die Muskulatur, die den Rumpf zwischen den Schulterblättern stabilisiert, isometrisch – also mit geringstmöglichem Kraftaufwand – arbeiten, sagen die Forscher. Für Reiter:innen heißt dies also: Alles was das Nicken stört, kostet das Pferd mehr Kraft, die es nicht für das Tragen des eigenen und des Reitergewichtes nutzen kann.

Hat ein Pferd aus einem dauerhaften Ziehen mit der Vorhand eine Trageerschöpfung entwickelt, hilft Reiten ihm oft nicht mehr aus diesem Zustand heraus, ist also nicht mehr sinnvoll möglich. Dann können etwa die Arbeit am Podest oder der Einsatz von Balance-Pads die weitere Kräftigung und das Körpergefühl unterstützen.

Ruzicka setzt dafür unter anderem auf Seitengänge und auf Training im Gelände: Das Pferd muss vom Boden aus wieder soweit stabilisiert, und die Tragfähigkeit aufgebaut werden, dass – langsam gesteigertes – Reiten es ebenfalls stärken kann. Besser also, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.