Interview

Was Hänschen nicht lernt? Warum frühere Spezialisierung in der Pferdeausbildung mehr schadet als nützt

Ein Artikel von Redaktion | 11.12.2025 - 11:00
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Junge Pferde, die hauptsächlich in der Halle geritten werden, sind später oft sehr reizsensitiv und lassen sich leicht ablenken. © www.Slawik.com

Der Trend zur Spezialisierung ist einer, den wir nicht nur in der Pferdewelt beobachten. Auf fast jedem Gebiet – Bildung, Medizin, Technik, Landwirtschaft, Wissenschaft, etc. – bedeutet Fortschritt eine Aufspaltung in immer enger gefasste Spezialgebiete. Die Vorteile liegen auf der Hand: Größere Fachexpertise, schnellere Weiterentwicklung, neue „Rekorde“. Für die Pferdewelt lässt sich das in etwa übersetzen mit: Höhere Sprünge, spektakulärere Dressurlektionen, jüngere Grand-Prix-Pferde, höhere Verkaufspreise für Nachwuchspferde. Reitmeister Martin Plewa sieht darin eine Fehlentwicklung – denn trotz allen Fortschritts in Zucht und Sport bleiben die Grundpfeiler einer gesunden Ausbildung unverrückbar die gleichen.


Herr Plewa, was ist für Sie in der Jungpferdeausbildung essenziell?

Egal ob ein Jungpferd später Dressur- oder Springpferd wird, meiner Meinung nach ist das Geländereiten eine zwingende Voraussetzung für eine gute Jungpferdeausbildung. Für das junge Pferd ist es wichtig, dass die Muskulatur vielseitig gefordert und die Strukturen des Bewegungsapparats abgehärtet werden. Sonst kann es später keine gesunde Haltung entwickeln. Das geht am besten, indem viel im Gelände geritten wird, es soll über harten und weichen Boden gehen, Bodenrickarbeit machen. Auch jedes junge Dressurpferd soll mindestens einmal pro Woche über Sprünge gehen, damit die Gliedmaßen abgehärtet werden und zugleich die Beweglichkeit, die Elastizität, das Gleichgewicht verbessert werden. Viele Reiter sind sich gar nicht bewusst, dass man beim Bergauf- und Bergabreiten und auf unebenem Boden sehr viel mehr erreichen kann als bei einheitlichen Bodenverhältnissen in der Reitbahn. Und die Arbeit im Gelände ist auch eine Voraussetzung für das psychische Wohlbefinden des Pferdes!


Wie profitieren die Pferde mental vom Geländereiten?

Pferde, die nervös sind und die sich schnell ablenken lassen, werden am langen Zügel im Gelände geritten auf Dauer gelassener und ruhiger. Denn draußen nehmen sie wesentlich mehr Reize aus ihrer Umwelt auf, das härtet sie sozusagen ab. Auf der anderen Seite kriegen Pferde, die in der Reitbahn die Gehfreude ein bisschen verloren haben, sie im Gelände wieder. Das heißt, sowohl in der einen wie auch in der anderen Richtung ist das Geländereiten, insbesondere auch in der Gruppe mit einem Begleitpferd, sehr wertvoll in der Ausbildung – nicht nur, aber speziell für Jungpferde!

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Für junge Pferde ist es wichtig, dass die Muskulatur vielseitig gefordert und die Strukturen des Bewegungsapparats abgehärtet werden. Das klappt am besten im Gelände. © www.Slawik.com

Warum, denken Sie, werden Pferde heute so früh spezialisiert?

Ich glaube, dass es damit anfängt, dass Reiter wie Ausbilder denken, man müsse zuerst einmal den Dressursitz lernen. Man wird nicht früh genug an den leichten Sitz herangeführt. Aber der ist in der Ausbildung des Reiters sehr wertvoll, auch des angehenden Dressurreiters. Über den leichten Sitz bekommt man wesentlich mehr Balance, macht neue Bewegungserfahrungen, kriegt eine bessere positive Körperspannung durch die Kräftigung der Rücken- und Bauchmuskulatur. Dieser späte Einstieg, manchmal auch fast fehlende Einstieg in den leichten Sitz verführt dazu, nachher nur noch im Viereck reiten zu wollen. Die Reiter sind dann oft gar nicht mutig genug, außerhalb der Bahn zu reiten und vielleicht auch mal einen kleinen Bocksprung des Pferdes zu riskieren. Ich glaube, das ist der Hauptpunkt.


Hat man Reiter und Pferde früher allgemein weniger spezialisiert ausgebildet?

Wir hatten unsere Reitausbildung damals noch gar nicht in der Bahn, das gab es gar nicht. Unsere Ausbildung fand im Wesentlichen im Gelände statt, dort sind wir geschult worden, und erst später ging es auf den Reitplatz. Es war total normal, dass man auf einem ländlichen Turnier alle angebotenen Prüfungen mit demselben Pferd geritten ist – bis hin zum Flachrennen rund um den Turnierplatz herum. Das eine Pferd ging vielleicht ein bisschen besser Dressur, das andere ein bisschen besser Springen, aber eine Spezialisierung gab es im ländlichen Bereich überhaupt nicht. Ich bin selbst in meiner Juniorenzeit alle Disziplinen geritten, Vielseitigkeit, Dressur und Springen, das war ganz normal.


Heute werden die Pferde ja schon disziplinbetont gezüchtet.

Ja, und ich halte das für falsch. Die Züchter müssen sich bewusst machen, dass die Masse der zum Beispiel dressurbetont gezüchteten Pferde nie einen Grand Prix gehen wird, stattdessen vielleicht auch mal ein A-Springen. Wir haben bei den Dressurpferden heute sehr gangstarke, bewegliche, rittige Pferde, und gerade die brauchen vor allen Dingen eine gute Stabilisierung ihrer Gliedmaßen. Also gerade solche Pferde sollten viel im Gelände geritten werden und nicht so früh schwierigere Dressurlektionen machen, sondern langsam entwickelt werden, sodass sie stabil werden – denn die Beweglichkeit haben sie ja heute schon in sich. Bei den Springpferden ist es hingegen häufig so, dass die Rittigkeit leidet. Die springen vielleicht am Ende über zwei Meter, aber für Otto Normalverbraucher sind sie nicht mehr rittig genug.

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Anlässlich seines Lehrganges auf Gut Ranzenbach (NÖ) machte Martin Plewa klar, dass auch Dressurpferde ... © Henrietta Göttinger

Das heißt, die modernen Pferde verlangen eine andere Ausbildung als damals?

Eigentlich nein, denn die langfristige Ausbildung, um ein Pferd gesund zu erhalten, das war damals auch normal. Ein Pferd musste mindestens zwölf Jahre im Militärdienst gehen, erst ab 16 Jahren durfte es auf Turnieren starten. Das heißt, die Pferde mussten langlebig und gesund sein. Es gab ja nicht einmal Tierkliniken für Pferde! Die heutigen hochtalentierten, bewegungsstarken Pferde verleiten die Reiter dazu, ihre Pferde zu spezialisiert und zu früh zu belasten. Da wirken Pferde schon drei- oder vierjährig unter dem Sattel im Seitenbild wie S-Dressurpferde in hoher Aufrichtung. Aber genau das ist gesundheitsschädlich, das ist bewiesen! Also ich glaube „back to the roots“ wäre jetzt wichtig – dass man sich wieder bewusst macht: Wie kann ich ein Pferd gesund erhalten?
 

Welche Rolle spielen die heutigen Reglements, z. B. für Turnierstarts oder Leistungsprüfungen, in Hinblick auf die vielseitige Ausbildung?

Seit vor vielleicht 30 Jahren – bei uns in Deutschland – disziplinspezifische Reitabzeichen eingeführt wurden, ist es möglich, auf einem Turnier zu starten, ohne je einen Sprung gemacht zu haben. Damit hat meiner Meinung nach die Fehlentwicklung begonnen.

In meiner Jugendzeit gab es im Norden Deutschlands und in Holland folgendes System, das leider später abgeschafft wurde: Wenn jemand mit einem Dressurpferd auf einem Turnier zum Beispiel eine M-Dressur reiten wollte, dann musste er mit dem Pferd morgens früh einen kleinen Parcours absolvieren. Wer ausschied, durfte die Dressur nicht gehen. Umgekehrt musste man mit einem Springpferd zumindest morgens eine ganz einfache Dressur reiten, und wer weniger als 40 Prozent erreicht hat, der durfte auch mit dem tollen Springpferd nicht in den Parcours. Das war eigentlich ein optimales System, das im Prinzip zur vielseitigen Ausbildung gezwungen hat.

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… von Springgymnastik und Cavalettiarbeit profitieren. © Henrietta Göttinger

Hat man denn aktuell überhaupt eine Chance im Top-Sport wenn man sein Pferd nicht früh spezialisiert?

Ja, ich glaube schon. Man sieht das am Beispiel der Vielseitigkeit sehr gut: 1989 haben wir in Deutschland ein System eingeführt, in dem junge Reiter in einem eigenen Championat auf sehr einfachem Niveau alle drei Disziplinen reiten müssen, dazu kommt ein Vormustern und neuerdings auch ein Sporttest. Das Reiten wird nach Stil bewertet, die Qualität des Pferdes ist nicht relevant. Aus diesem Championat sind immer erfolgreiche Junioren und Junge Reiter hervorgegangen, und die erfolgreichen Reiter der Jetztzeit sind auch durch dieses System gegangen! Michael Jung war dabei, Julia Krajewski, Sandra Auffahrt. Ein bisschen knüpft das an die Vergangenheit an: Rainer Klimke hatte als späterer Dressurreiter seinen ersten Olympiastart in der Military und war dreimal deutscher Meister der Vielseitigkeitsreiter. Hans Günter Winkler hat in Luhmühlen [das Vielseitigkeitsturnier, Anm.] gewonnen, bevor er erfolgreicher Springreiter wurde. Herbert Meyer, der Bundestrainer im Springreiten, ist früher Vielseitigkeit geritten, oder auch Alwin Schockemöhle. Ingrid Klimke reitet S-Springen und Grand-Prix-Dressur, aber sie hat in der Vielseitigkeit begonnen. Das hat gezeigt, dass eine vielseitige Ausbildung auch für die Spezialisierung unglaublich behilflich ist. Es ist ja auch sportwissenschaftlich bewiesen, dass eine vielseitige motorische Ausbildung auf und auch mit dem Pferd für eine spätere Spezialisierung sehr dienlich ist. Man kann also eigentlich allen Ausbildern nur raten, ihren Schülern den Weg in die Vielseitigkeit zu ebnen. Dann können die Reiter nachher immer noch entscheiden, ob sie weiter Dressur oder Springen reiten wollen oder doch in der Vielseitigkeit bleiben.


Woran müssen wir Reiter:innen arbeiten, um eine stabile Basis in der Ausbildung zu schaffen?

Wir müssen vor allem in der Lage sein, die gesunderhaltende, vielseitige Grundausbildung des jungen Pferdes umzusetzen. Jemand, der nur Dressur reitet, weiß vielleicht gar nicht, wie man bergauf und bergab reitet oder eine Cavalletti-Reihe überwindet. Wenn er das nie gelernt hat, kann er ein Pferd eigentlich auch nicht ausbilden. Kurz: Ein Reiter selbst muss in allen Sitzformen so ausgebildet sein und entsprechend einwirken können, dass er dem Pferd in allen Situationen gerecht wird und es artgerecht ausbilden kann.

Wir danken für das Gespräch!

Das Interview führte Barbara Stummer-Mlakar.