Ausbildung

Technik oder Gefühl: Was zählt im Sattel?

Ein Artikel von Dr. Britta Schöffmann | 20.01.2022 - 15:39
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Denken und Fühlen können einander fördern oder behindern — das passende Zusammenspiel zu finden, ist deshalb Aufgabe jeder Reiterin und jedes Ausbilders. © www.Slawik.com, Illustration: Dr. Britta Schöffmann

Sitz, Sitz, Sitz – nicht nur die Elev:innen der Spanischen Hofreitschule wissen, was das heißt. Der ausbalancierte Reitersitz ist die Grundlage für eine gelingende und vom Pferd verstandene reiterliche Einwirkung. Das predigen sämtliche Reitausbilder: innen ihren Schüler:innen. An der „Spanischen“ geschieht die Sitzschulung sogar über Jahre an der Longe. Erst wenn ein:e Reiter:in das Pferd nicht mehr durch Sitzschwächen stört, darf auf die Longe verzichtet und frei geritten werden. Die Reittechnik steht also über allem? Jein. Denn richtig, sprich ausbalanciert, auf dem Pferd zu sitzen, will auch erfühlt werden.
 

Vom Gefühl zur Technik und zurück

Die beim Reiten so zentrale Fertigkeit, Balance zu halten, gehört sportwissenschaftlich gesehen zu den motorischen Grundfertigkeiten, genauso wie Gehen, Laufen, Klettern und ähnliches. Dazu braucht es Körperwahrnehmung und Körperbewusstsein, also die Einschätzung des eigenen Körpers und seiner Bewegungsmöglichkeiten. Genauso wichtig ist die Wahrnehmung mit (fast) allen Sinnen. Die Fähigkeit zu zielgerichtetem und zweckmäßigem Handeln, im Falle des Reitens also zur Ausübung der Reiterhilfen und der reiterlichen Einwirkung, entwickelt sich erst über die Erfahrungen mit dem eigenen Körper durch Informationen und Rückmeldungen aus der Umwelt.

Das Handeln gehört zur (Reit-)Technik, die Erfahrungen zum (Bewegungs-) Gefühl. Gefühl und Technik sind also untrennbar miteinander verbunden. Welche dieser zwei wichtigen Komponenten dabei vornan steht, hängt nicht zuletzt vom Alter der Reitschüler:innen ab. Kleine Kinder lassen sich beispielsweise viel eher auf das Fühlen von Bewegung und damit auf Ausprobieren sowie Versuch und Irrtum ein als Erwachsene. Je älter die Schüler:innen, desto „verkopfter“ sind sie meist. Als Reitausbilder:in muss man hier genau hinschauen, wen man vor sich hat. Es ist nicht einfach damit getan, einem Kind auf dem Pferderücken dauernd mit Sitzkorrekturen in den Ohren zu liegen. Denn dies würde das angeborene natürliche Bewegungsgefühl des Kindes behindern oder gar zerstören. Auf der anderen Seite bringt es aber auch nichts, von erwachsenen Reitschüler:innen Gefühl zu verlangen, denn das intuitive „sich Einlassen auf Bewegung“ geht mit fortschreitendem Alter mehr oder weniger verloren. Die Gedanken sind dem Gefühl im Weg.

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Kinder brauchen meist einen gefühlsbetonteren Lernansatz als Erwachsene. © www.slawik.com

Das Pferd zu spüren ist die Grundlage

Gibt es denn eine Art „Technik-Gefühl“- Lehr- bzw. -Lern-Rezept? Nein. Denn jede:r Reiter:in ist anders. Jedes Pferd als Spiegel des Menschen ist anders. Jede Reiter:in- Pferd-Kombination ist anders. Und jede Reitsituation ist anders. Ein kleines Kind zum Beispiel oder ein kurzbeiniger, vielleicht etwas pummeliger Reiter wird auf einem dickbäuchigen Pferd nicht optimal zum Sitzen kommen können. Wie soll sich dann noch Bewegungsgefühl einstellen und entwickeln? Oder wie soll die Reiterin eines andauernd bockenden Pferdes wie gemalt im Sattel sitzen und sich dabei noch freundlich lächelnd entspannen? Wer unterrichtet, sollte sich also immer an den aktuellen Gegebenheiten orientieren und sich fragen: Wen habe ich vor mir? Ein Kind, einen Erwachsenen, eine ängstliche Reiterin, einen Anfänger oder eine Sportreiterin? Und was für ein Pferd? Ein gut oder schlecht ausgebildetes Schul- oder Privatpferd? Ein Freizeitpferd, ein Sportpferd, einen Faulpelz oder einen Buckelkönig? Denn sowohl das Erlernen der Reittechnik als auch des Reitgefühls hängt maßgeblich von den individuellen Gegebenheiten ab. Wenn kleine Kinder beispielsweise eher von Bewegung und durch Bewegung intuitiv lernen, dann sollte man diese Bewegung auch zulassen und sie nicht in ein starres Sitzkorsett – Kopf hoch, Absatz tief, Beine lang – pressen.

Und je mehr Bewegungsabläufe zugelassen, je mehr Bewegungsangebote gemacht werden, desto eher können sie vom Gehirn abgespeichert und irgendwann auch bewusst abgerufen werden. Ein Grund, warum eine vielseitige Reitausbildung so wichtig ist. Denn es macht schon einen Unterschied, ob man ausschließlich auf einem ebenmäßig geschleppten Reithallenboden im Dressursitz seine ruhigen Runden dreht und den Anweisungen des/der Reitlehrer:in lauscht oder aber auch mal über Stock und Stein, bergauf und bergab, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Sitzweisen im Sattel – oder auch mal ohne – die Welt erkundet oder über Hindernisse reitet. Vor allem kindliche und jugendliche Reitschüler: innen sollten deshalb erst einmal erfühlen dürfen, was auf dem Pferderücken geschieht. Sie sollen sich und das Pferd spüren, Bewegung fühlen, intuitiv reagieren und auch mal Fehler machen dürfen.


Wer zu viel denkt …

Und Erwachsene dürfen das nicht? Natürlich dürf(t)en sie, aber es fällt ihnen schwerer. Erwachsene wollen meist erst verstehen, was sie da tun und wie sie es tun sollen. Darüber hinaus haben Erwachsene häufig Bedenken: Fehler zu machen, sich zu blamieren, dem Pferd zu schaden oder sich bei einem möglichen Sturz zu verletzen. Das Denken steht hier zulasten des Fühlens meist an erster Stelle.

Typisches Beispiel ist die Aufforderung der Reiterlehrerin an ihren Schüler, eine bisher noch nicht gerittene Lektion zum ersten Mal zu versuchen, zum Beispiel eine Kurzkehrtwendung. Den meisten jugendlichen Schüler:innen reicht der Hinweis: „Dabei wendet die Hinterhand um die Vorhand“ – und sie versuchen es ohne große Erklärung. Erwachsene Reitschüler:innen werden dagegen meist fragen: „Und welche Hilfen muss ich dazu geben? Wohin muss ich stellen? Wie wirken meine Schenkel ein? …“ Das heißt aber nicht, dass erwachsene Reitanfänger oder Reitschülerinnen gleich auch schlechter lernen, sie lernen einfach anders als Kinder.

Und auch im höheren Alter gibt es durchaus Umstände, die sich sehr vorteilhaft aufs Lernen auswirken. So können sich Erwachsene länger konzentrieren, sie können Erklärungen des/der Reiterlehrer:in verstehen, vielleicht sogar auf Erfahrungen zurückgreifen und auch zielgerichteter agieren. Trotzdem sollten auch erwachsene Reiter:innen versuchen, hin und wieder den Kopf „auszuschalten“ und sich aufs Fühlen einzulassen. Und Ausbilder:innen dürfen sich nicht in unendlichen Erklärungen verlieren, denn die können auch Erwachsene letztlich gar nicht mehr nachvollziehen und umsetzen.

Immer häufiger hört man zum Beispiel pseudowissenschaftliche Reitanweisungen an – meist unerfahrene – Reitschüler:innen: „Du musst mit deinem linken, dreieinhalb Zentimeter zurückgelegten Schenkel anderthalb Sekunden vor Abfußen des äußeren Hinterbeins eine Druckerhöhung von 0,5 Pascal einsetzen, um das Vorschwingen des Hinterhufs um …“ Wenn diese Formulierung zur Veranschaulichung auch ein wenig übertrieben ist, so werden viele Reitschüler:innen mit Anweisungen und Informationen tatsächlich so überfrachtet, dass einfach kein Platz mehr fürs Fühlen bleibt. Dabei müssen Reiter:innen ihren eigenen Körper und den des Pferdes fühlen, um überhaupt zu sinnvollen Einwirkungen kommen zu können!

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Technische Erklärungen haben einen wichtigen Stellenwert beim Reitenlernen, aber Achtung: Viele (vor allem erwachsene) Reiter:innen sind bereits zu „verkopft“. ©www.Slawik.com

Angst hindert am Lernen

Bei Anfänger:innen stehen sich (Reit-)Technik und (Reit-)Gefühl meist noch gegenüber, wobei das Fühlen hier zunächst wichtiger ist als die reine Technik. Um sich der dreidimensionalen Bewegung des Pferdes und auch dem Tempo der Gangarten anpassen zu können, muss man offen dafür sein, diese Bewegung zu spüren und zuzulassen. Ein großes Gefühl kann dem allerdings entgegenstehen: Angst. Viele Anfänger:innen empfinden Angst, vor allem, wenn das Pferd etwas schneller läuft als es ihnen gefällt. Aber auch Fortgeschrittene können nach schlechten Erfahrungen wie bösen Stürzen plötzlich Angst im Sattel spüren. Angst verhindert positives Fühlen, sie verhindert inneres Loslassen und sie verhindert Lernen. Und Reitlehrer:innen- Sprüche wie „Stell dich nicht so an!“ oder „Was bist du für ein Angsthase!“ sind nicht nur völlig daneben, sie verschlimmern meist sogar das negative Gefühl der Reiter:innen und erhöhen damit die Gefahr eines tatsächlichen Unfalls. Selbst gut gemeinte Hinweise wie „Du brauchst keine Angst zu haben!“ helfen selten weiter. Sinnvoller ist es, die Angst ernst zu nehmen und nach der Ursache zu forschen.

Darüber hinaus kann es helfen, die aktuelle Situation zu analysieren und dem/der Reiter:in (oder als Reiter:in auch sich selbst) verständlich zu machen und dann Schritt für Schritt vorzugehen. Bei ganz schlimmen Angstattacken – auch das gibt es im Sattel – sollte dann aber aus Sicherheitsgründen tatsächlich professionelle Hilfe hinzugezogen werden.

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Innere Bilder vermitteln das Gefühl für die richtige Bewegung oft viel besser als trockene Erklärungen.
© www.slawik.com, Illustration Sandy Rabinowitz, mit freundlicher Genehmigung von Dressage Today

Innere Bilder fördern das Gefühl

Ist keine Angst im Spiel und ist der/die Reiter:in schon zu den Fortgeschrittenen zu zählen, halten sich (Reit-)Technik und (Reit-)Gefühl meist die Waage. Der Mensch im Sattel fühlt seinen eigenen Körper und den seines Pferdes, kann bereits über Sitz und bewusste Einwirkung Einfluss nehmen und dadurch auch nach und nach seine Technik verfeinern, sein Timing optimieren und seine Hilfen passender dosieren. Doch auch das Fühlen im Sattel lässt sich an diesem Punkt weiterhin lernen und verbessern.

Innere Bilder, die man selbst erschafft oder sich nach Anleitung des/ der Ausbilder:in vorstellt, können hier wahre Wunder wirken. Der Phantasie sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Welche Bilder man wählt, hängt letztlich von den persönlichen Vorlieben ab, von Alter, Geschlecht (einem Mann würde man vermutlich weniger raten, seinen Oberkörper wie eine Blume zu öffnen) und auch Charakter.

Nicht jeder Mensch ist für innere Bilder empfänglich, mancher lernt leichter über rein technische Anweisungen. Dabei wohnt inneren Bildern, Vorstellungen und Erwartungen eine große Kraft inne. Wer zum Beispiel bei einer Übung von vorneherein davon ausgeht, dass sie nicht klappen wird, dem wird sie auch misslingen. Eine typische Lektion ist hier wieder einmal das Kurzkehrt, zu dem viele Reiter:innen sagen: „Kurzkehrt kann ich nicht, das kriege ich nicht koordiniert. Das klappt nie.“ Wer mit solch negativen Gedanken an die Sache herangeht, der malt damit auch ein negatives inneres Bild, das dann tatsächlich Realität wird. Selbsterfüllende Prophezeiung heißt das in der Psychologie. Besser wäre es hier, sich das Kurzkehrt einmal zu vergegenwärtigen: Wie sieht ein Kurzkehrt aus, was tut der Pferdekörper, was die Pferdebeine und was der Reiterkörper? Durch dieses Visualisieren kann man sich den ganzen Bewegungsablauf einer Übung in Bildern vorstellen. Ich sehe mich dann beispielsweise im Schritt Richtung Kurzkehrt reiten, ich sehe was ich tun muss, um es einzuleiten, ich sehe Kopf und Hals des Pferdes vor mir, ich sehe die äußere Schulter wenden und so fort. Wer das kann – als Ausbilder:in beim Unterrichten, als Reiter:in beim eigenen Training –, der fördert das reiterliche Gefühl, was mindestens genauso wichtig ist wie die Förderung der Technik.


Reitkunst: Gefühl und Technik verbunden

Das eine ohne das andere reicht nämlich nicht. Bei sehr erfahrenen Reiter:innen greifen Gefühl und Technik irgendwann immer mehr ineinander. Statt noch detailgenau über einzelne Aktionen nachdenken zu müssen, lassen sich diese Reiter:innen größtenteils vom Unterbewusstsein führen. Der Vorteil: Die Aktions- und Reaktionszeit ihrer reiterlichen Einwirkungen ist deutlich kürzer als bei denen, die noch darüber grübeln, welche Hilfe sie jetzt eigentlich geben müssten. Der Nachteil: Möglicherweise eingeschlichene Sitz- und Einwirkungsfehler werden oft nicht mehr bemerkt und sind auch nicht ganz einfach abzustellen, zu tief sind sie im Unterbewusstsein verankert. Hier hilft dann oft nur der übertriebene Schritt ins Gegenteil (zum Beispiel einen verkrampft nach unten durchgedrückten Absatz über die Vorstellung des Hochziehens zu korrigieren), um das Unterbewusstsein zu überlisten und ein neues (Körper-)Gefühl ins Bewusstsein zu bringen. Irgendwann einmal, bei einigen (wenigen) Reiter:innen, verbinden sich Gefühl und Technik untrennbar miteinander. Dann lebt das eine vom anderen. Und wenn das geschieht, dann ist es Kunst – Reitkunst.